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Archiv-Artikel

Das Museum des Lebens

ERINNERUNG 2013 eröffnete das Museum Polin in Warschau, nun startet die Dauerausstellung „1000 Jahre jüdisches Leben in Polen“. Sie richtet den Fokus auf den Reichtum polnisch-jüdischer Kultur

Museum Polin

■ Eröffnung: Am 28. Oktober startet im Museum der Geschichte der polnischen Juden die Dauerausstellung „1000 Jahre jüdisches Leben in Polen“

■ Wo: Anielewicza 6 00-157 Warschau, Polen

■ Tickets: Das reguläre Ticket kostet 30 Polnische Zloty (etwa 7,20 Euro), 20 Zloty das ermäßigte

■ Öffnungszeiten: Montag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Sonntag 10–18 Uhr Samstag: 10–20 Uhr Dienstags geschlossen

■ Kontakt: (+48) 2 24 71 03 00 info@polin.pl

■ Mehr Infos unter: http://polin.pl/en

AUS WARSCHAU GABRIELE LESSER

Polin heißt das neue jüdische Museum in Warschau – „hier lasse dich nieder!“. Das hebräische Wort sollen die ersten jüdischen Siedler auf ihrem Weg nach Osten gehört haben. Hunderttausendfach ist das Wort auf den graugrünen Glaslamellen des Museumsgebäudes eingraviert. Vielleicht, um dem Genius loci des Platzes zu trotzen, steht das jüdische „Museum des Lebens“ doch mitten im ehemaligen Warschauer Ghetto. Am Dienstag schneiden die Staatspräsidenten Polens und Israels, Reuven Rivlin und Bronislaw Komorowski, gemeinsam das rote Band durch und eröffnen die Dauerausstellung „1000 Jahre jüdisches Leben in Polen“.

Vor dem Überfall der Wehrmacht lebten in Polen rund 3,5 Millionen Juden. Die Hauptstadt Warschau war mit über 300.000 Juden nach New York die zweitgrößte jüdische Metropole der Welt. Die Krochmalna- und Nalewki-Gasse fanden über den Jiddisch schreibenden Nobelpreisträger Isaac Bashewis Singer Eingang in die Weltliteratur. Im Warschauer Stadtteil Muranow pulsierte das jüdische Leben. Bis die Deutschen kamen, genau hier das Warschauer Ghetto errichteten und fast alle Juden ermordeten. Gegenüber dem Museumseingang erinnert das Denkmal der Helden des Ghettoaufstands an den Kampf der letzten Ghettoüberlebenden 1943 für Leben und Freiheit. Von hier aus führt ein Gedenkpfad an kleineren Denkmälern, der Zygielbojm-Wand und dem Anielewicz-Bunker bis zum Umschlagplatz vorbei: Von hier aus fuhren die Züge ins Vernichtungslager Treblinka.

Doch das Museum Polin will vor allem an das Leben der polnischen Juden erinnern. Die Idee dazu hatte Grazyna Pawlak vor über 20 Jahren. Als die Soziologin 1993 von der Eröffnung des Holocaust-Museums in Washington nach Warschau zurückkam, war sie begeistert von der damals geradezu revolutionären Idee, die Museumsbesucher aktiv in die Geschichtsinszenierung mit einzubeziehen. Ein Museum zum Mitmachen hatte es bis dahin in Polen nicht gegeben.

Die Tochter einer Holocaust-Überlebenden arbeitete eine erste Konzeption für ein polnisch-jüdisches „Museum des Lebens“ aus und stellte es dem Trägerverein des Jüdischen Historischen Instituts (ZIH) in Warschau vor. Ihr Argument, Polen brauche kein Holocaust-Museum, da mit Auschwitz-Birkenau, Treblinka, Sobibor und anderen ehemaligen nazideutschen Vernichtungslagern authentische Orte existierten, überzeugte. So erhielt sie den Auftrag, im Namen des ZIH die Gründung des neuen Museums voranzutreiben. Im Jahr 1994 sprach sie den damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog beim 50. Jahrestag des Warschauer Aufstands von 1944 an. Wenig später war die Anschubfinanzierung für das ambitionierte Projekt mit den ersten 2 Millionen Mark gesichert.

Nun, 20 Jahre später, kann Grazyna Pawlak das fertige Museum mit ihrer ursprünglichen Idee vergleichen. Während sie selbst seit Jahren die Moses-Schorr-Stiftung leitet, übernahmen die späteren Museumsdirektoren aus Polen, Jerzy Halberstadt und Dariusz Stola, die Kuratorin der Dauerausstellung, Barbara Kirshenblatt-Gimblett aus Kanada, sowie der Chefhistoriker des Hauses, Anthony Polonsky aus Großbritannien, ihre Idee. Sie schlossen Verträge mit Polens Kulturministerium, der Stadt Warschau und vielen großzügigen Privatspendern aus der ganzen Welt. 80 Millionen Euro hat allein der Bau des vom finnischen Architektenpaar Rainer Mahlamäki und Ilmari Lahdelma entworfenen Gebäudes gekostet und noch einmal knapp 15 Millionen Euro die Ausstellung.

Wie alle Besucher wird Grazyna Pawlak am Denkmal der Helden des Ghettoaufstands vorbeigehen, den graugrünen Kubus mit der Außenhaut aus Glaslamellen betreten und die „Furt“ entlanggehen, die an den Marsch der Israeliten durch das Rote Meer erinnern soll. Hinter den sandfarbenen, hohen Wänden verbergen sich ein großer Theater- und Kinosaal, Vortragsräume und die Büros der Mitarbeiter. Eine breite, steile Treppe führt hinab zur Dauerausstellung. Aus dem Dunkel leuchtet ihr der „Legendenwald Po-lin“ in Grün entgegen.

Nach einem engen Korridor öffnet sich eine weiträumige und farbenfrohe Saalflucht: das Mittelalter und die frühe Neuzeit. Wandmalereien, Computeranimationen und die von Studenten nachgebaute Holzsynagoge von Gwozdziec in der heutigen Ukraine machen mit der ersten Begegnung von Juden und Christen in Polen bekannt, mit dem „Paradisus Iudaeorum“ im 16. und 17. Jahrhundert und dem Leben in einem „Städtchen“.

Das jiddische Wort „Schtetl“ wird in der Ausstellung vermieden, da es laut Chefkuratorin vor allem mit der kitschigen „Wenn ich einmal reich wär“-Welt aus Anatevka von Scholem Alejchem assoziiert wird.

Die Galerie „Herausforderung der Moderne“ soll zeigen, wie sich das Leben der polnischen Juden ab 1772 in den drei Teilungsgebieten – Russland, Österreich und Preußen – entwickelte. Doch die Unterschiede werden kaum klar. Dass sich in der Teilungszeit die Identität „Pole-Katholik“ herausbildet, die sich von äußeren Feinden – Russen, Österreichern und Preußen – abgrenzt, aber auch von den „inneren Feinden“, den Juden, wird nur Eingeweihten ersichtlich.

Die lärmende „Straße“ der Zwischenkriegszeit wirkt auf den ersten Blick wie eine zweite „goldene Zeit“ für Polens Juden. Doch dass zahlreiche jüdische Vereine, Verlage und Künstlertreffpunkte vor allem deshalb entstehen, weil Arierparagrafen, Boykottaufrufe und Ghettobänke Juden aus dem gesellschaftlichen Leben drängen, geht nur aus kleinen Vitrinen, winzigen Karikaturen und einzelnen Textstellen hervor.

Dann kommt mit dem 1. September 1939 die Galerie „Zaglada“ – „Vernichtung“. Die bisher farbenprächtige Welt des „Museums des Lebens“ wird schwarz-weiß, geht im Warschauer Ghetto ins Grau-in-Grau über und wird am Ende in einer rostroten dunklen Metallkammer fast völlig schwarz. Texte und Bilder unterscheiden sich nicht von denen in den Gedenkstätten der nazideutschen KZs und der Holocaust-Museen.

Bei vielensitzt die Angst tief, sich öffentlich zum Judentum zu bekennen

Der Eindruck ist so stark, dass es schwerfällt, in der Galerie „Nachkriegszeit“ den zaghaften Neuanfang der rund 300.000 überlebenden Juden in Polen zu verfolgen. Die meisten kehrten aus der Sowjetunion zurück und siedelten sich in Niederschlesien und der weitgehend unzerstörten Industriestadt Lodz an.

Die Schubladen mit den Texten zu den Nachkriegspogromen und die Zeitzeugenberichte zur antisemitischen Hetzkampagne der kommunistischen Partei Polens 1968 verstärken das Gefühl einer tiefen Traurigkeit. Ganz am Ende der Ausstellung erzählen einige wenige Juden auf einer Leinwand von der „Renaissance des Judentums in Polen“. Immerhin haben bei der letzten Volkszählung in Polen über 7.000 Personen ihre Nationalität als „jüdisch“ bezeichnet. Bei vielen sitzt die Angst tief, sich öffentlich zum Judentum zu bekennen. In großen Städten ist das eher möglich. Doch in kleineren Orten, insbesondere in Ostpolen, sind Juden nach wie vor vorsichtig.

„Natürlich freue ich mich, dass meine Idee nun realisiert wird“, sagt Grazyna Pawlak. Die Ausstellung beeindrucke durch ihren Reichtum an Informationen. Andererseits sei es traurig, dass ausgerechnet jetzt das große Marek-Edelman-Graffito an einer Hauswand in Muranow übermalt worden sei. Vor ein paar Jahren hatten engagierte und begeisterte Warschauer Geld gesammelt, Farbe gekauft, eine Hauswand gefunden, und ein Künstler hatte Edelman, einen der Anführer des Warschauer Gettoaufstandes, auf der Wand verewigt. Doch die Hausgemeinschaft wollte die Wand nun „vermieten“, als sei das Kunstwerk eine Art Reklame. Eine Bewohnerin meinte gar: „Können Sie nicht einen katholischen Polen an die Wand malen?“

Wenig begeistert sind Polens Juden auch davon, dass der Sejm, das polnische Abgeordnetenhaus, ausgerechnet jetzt über die Ehrung Roman Dmowskis diskutiert und ihm sogar eine eigene Ausstellung widmet. Der Historiker Szymon Rudnicki findet es unfassbar, dass heute noch Politiker in Polen geehrt werden können, die 1934 mit obsessivem Antisemitismus die Leute aufgehetzt hätten. Damals schrieb Dmowski Sätze wie: „Es ist klar, dass man konsequent danach streben muss, immer weniger Juden im Lande zu haben, will man Polens Zukunft sichern. Die Juden beherrschen den Handel, zum Teil auch das Handwerk. Sie verjuden unsere Städte und Städtchen. Die Polen müssen den Handel in ihre Hände nehmen und das Handwerk von den Juden säubern.“

Dariusz Stola, seit einem halben Jahr amtierender neuer Museumsdirektor, möchte, dass die Ausstellungsbesucher mit einem „Gefühl des Stolzes auf die reiche Kultur und Geschichte der polnischen Juden“ das Museum verlassen. Ob das gelingt, werden die nächsten Monate zeigen. Stola rechnet mit rund einer halben Million Besucher jährlich.