Ein Tritt in die richtige Richtung

MOBILITÄT Die Genossenschaft Velogista nutzt selbst konstruierte Lastenräder für den Transport großer Waren. Das überwiegend ehrenamtliche Projekt will nun richtig durchstarten und sammelt mittels Crowdfunding Geld für ein weiteres Gefährt

■ Zum sechsten Mal erhebt der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) zusammen mit der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt die Radfahrbedingungen in Berlin. Die Erhebung ist Teil des bundesweiten ADFC-Fahrradklima-Tests; er ist die weltweit größte Befragung dieser Art. 2012 nahmen mehr als 80.000 Menschen teil; in der Auswertung wurden 332 deutsche Städte bewertet.

■ Auf www.fahrradklima-test.de können auch in diesem Jahr RadfahrerInnen anhand eines Fragebogens Impulse geben, die zur Verbesserung der Fahrradfreundlichkeit in ihrer Region führen sollen. Die Umfrage läuft bis zum 30. November 2014.

■ In Zusammenarbeit mit diversen Institutionen, Vereinen und Organisationen setzt sich der ADFC Berlin für die Förderung des Fahrradverkehrs ein. (taz)

VON CLAUDIUS PRÖSSER

„Einen Rückwärtsgang hat es nicht, aber der Wendekreis ist extrem klein“, sagt Martin Seißler, schlägt den Lenker ganz nach links und dreht quasi auf der Stelle. Im Laderaum des dreirädrigen Lastenfahrrads, auf dem er sitzt, wartet ein Dutzend Kisten mit Leergut auf den Transport zur Getränkehandlung, aber das übernimmt gleich ein Fahrer. Seißler ist einer der Initiatoren von Velogista, einer Berliner Genossenschaft, die Lastenräder für die innerstädtische Logistik entwickelt und einsetzt. Lastenräder, die es in dieser Form sonst noch nicht gibt und die Aufgaben bewältigen, die man einem Fahrrad kaum zutrauen würde.

„Eine ganze Euro-Palette passt hier von den Maßen rein“, sagt Seißler stolz, „dieses Format haben nur unsere Modelle.“ An Gewicht sollen Rad und Fahrer bis zu 250 Kilogramm bewältigen. So ganz ohne Weiteres geht das natürlich nicht: Ein Elektroantrieb nach dem Pedelec-Prinzip unterstützt die Beine bis zu einer Geschwindigkeit von 25 Stundenkilometern. Anfahren kann man sogar ganz ohne Muskelkraft: Ein kleiner Dreh am linken Lenkergriff, und mit einem Schnurren des E-Motors setzt sich das Gefährt in Bewegung.

Die Tour, die jetzt ansteht, geht dann weiter zu einem Biomarkt in der Reichenberger Straße. Von dort bringt der Velogista-Fahrer eine Lebensmittelbestellung in eine Kita. Ein Auftrag von vielen – auch Gemüsekisten werden per Lastenrad ausgeliefert oder eine Kinokette mit Schokolade und Chips versorgt. Da stößt die winzige Lastenradflotte manchmal an ihre Grenzen: Auf dem Hinterhof in der Nähe des Kreuzberger Mariannenplatzes parkt nur noch ein weiteres Gefährt. Sein gelber Kastenaufbau aus Aluminium ist kürzer, aber höher als bei Rad Nummer eins, und über der Stelle, wo sich der Kopf des Fahrers befindet, ragt ein kleines Dach. „Der Regenschutz ist praktisch“, erklärt Seißler, „aber insgesamt ist dieses Rad zu hoch, in manche Tiefgaragen kommen wir damit nicht rein. Ist eben alles noch nicht der Weisheit letzter Schluss.“

Kein Wunder, schließlich betreten Seißler und seine Mitstreiter Neuland mit dieser Form der Citylogistik. Dafür nehmen sie noch so einiges in Kauf: Außer den Fahrern, die nach Mindestlohn bezahlt werden, sind alle ehrenamtlich tätig; jeder macht seine eigene Mischfinanzierung, um Arbeitskraft in das Projekt einbringen zu können. Ein Stipendium ermöglichte es der Genossenschaft in Gründung, ein Jahr lang unentgeltlich Räume und Infrastruktur im Social Impact Lab nutzen, einer Plattform für „Social Startups“ auf zwei Altbau-Loftetagen in der Muskauer Straße, Networking und Kickertisch inklusive. Inzwischen muss Velogista Miete bezahlen und sucht eigene Räume in der Nähe, um den Absprung zu schaffen. Weil das Kapital dafür mit derzeit 40 Genossen und 40.000 Euro in Geschäftsanteilen sehr knapp bemessen ist, wurde gerade ein Crowdfunding gestartet.

Aber warum ausgerechnet Logistik-Fahrräder? Ist das mehr als eine nette Idee? „Das Lastenrad hat bei der Feinverteilung von Waren klare Vorteile“, sagt Roland Naumann. Er gehört zum dreiköpfigen Velogista-Kernteam: Während Seißler für die finanzielle Strategie zuständig ist und seine Kollegin Sabine Föppl Logistik und Kundenbetreuung in der Hand hat, kümmert er sich um Personal und Kommunikation. „Natürlich fahren wir vor allem auf der Straße. Aber wir können auch auf den Radweg ausweichen. Lastenräder dürfen wie andere Fahrräder gegen die Einbahnstraße fahren, wo es erlaubt ist, und sie können Abkürzungen nehmen, etwa durch eine Grünanlage.“ Dann macht Naumann noch eine Rechnung auf: „Wenn die Paketdienste die Bußgelder einpreisen würden, die sie zahlen müssten, weil sie in zweiter Reihe parken, wären ihre Tarife um 50 Prozent teurer.“ Lastenfahrräder dagegen müssen nicht ständig gegen die StVO verstoßen, und sie kommen sogar bis in den Hinterhof. So gesehen kann sich das Ganze tatsächlich irgendwann rechnen.

Aber in diesem Projekt steckt auch ein Weltverbesserungs-Gen. Wenn Martin Seißler durch die Stadt fährt, sieht er Verkehrschaos, Umweltbelastung, Gefahren. Er selbst bastelt seit der Geburt seines ersten Sohns vor einigen Jahren an der Vision der Pedal-Logistik. Auch weil er das Kind von Anfang an mit dem Lastenfahrrad transportiert hat und bald darauf noch ganz andere Dinge: „Eine Leiter oder 60 Liter Farbe oder 40 leere Umzugkartons – wenn das ging, müsste ja noch mehr drin sein, dachte ich.“

Ganz allein auf weiter Flur sind die Velogista-Leute dann aber doch nicht unterwegs. „In den vergangenen Jahren sind viele kleine Projekte mit Lastenrädern an den Start gegangen“, sagt Leopold Brötzmann. Er arbeitet bei Velokonzept, einer Berliner Agentur, die unter anderem Fahrradmessen und Kampagnen organisiert. Im Rahmen des Projekts „Velotransport“ baute Velokonzept vor zwei Jahren im Netz eine Informationsplattform zum Thema Lastenräder auf und tourte mit einer Produktschau durchs Land. „Sogar große Logistik-Player wie DHL oder UPS setzen schon punktuell Lastenräder ein“, kann Brötzmann heute verkünden. Und in Ikeas erster Innenstadt-Filiale in Hamburg könnten die Kunden Lastenräder mieten, um ihren Einkauf nach Hause zu bringen.

Verkaufszahlen fehlen

Brötzmann sieht die Lastenrad-Branche insgesamt im Aufwind. Dabei muss er indes von „gefühlten Wachtsumsraten“ sprechen, denn konkrete Verkaufszahlen gibt es nicht: Der Zweirad-Industrie-Verband betrachtet Lastenräder bislang nicht als eigene Kategorie, sie fallen unter das Rubrum „Spezialräder“. Zurzeit sieht Brötzmann die größeren Verkaufszahlen noch im privaten Bereich: „In Kreuzberg steht doch vor jeder Kita ein Lastenrad.“ In Verbindung mit Carsharing würden viele Nutzer irgendwann ganz aufs eigene Auto verzichten. „Gewerbliche Anwendungen haben aber eine Leuchtturmfunktion“, sagt der Radexperte, „der wirtschaftliche Effekt wird hier deutlicher sichtbar.“

„Sogar große Logistik-Player setzen punktuell Lastenräder ein“

LEOPOLD BRÖTZMANN, VELOKONZEPT

Auch für Stefan Neitzel sind Lastenräder ein Zukunftsmodell. Er ist Geschäftsführer der Fahrradstation Berlin, die in mehreren Filialen Räder vermietet und verkauft sowie Touren anbietet. Etwas vorsichtiger ist Neitzel mit seinem Urteil, von einem Boom will er gerade im privaten Bereich noch nicht sprechen. Was vor allem an den Preisen liege: „Der Kauf eines Pkw ist zumindest vordergründig oft noch billiger als der eines Transportrads. Dabei liegen die hohen Preise an den kleinen Stückzahlen.“ Solange also die Nachfrage nicht die Produktion kräftig ankurbelt, lautet Neitzels Fazit: „Man muss das echt wollen.“ Dass Postzusteller, Pizzadienste oder Kurierfahrer immer häufiger zu Rad unterwegs sind, macht ihn dennoch optimistisch: „Transporträder sind der richtige Weg in der Großstadt.“

Zurück zu den Velogistas: Noch läuft das Crowdfunding eher mäßig, die Besucherzahlen auf der Website sind überschaubar. „Statistisch sind wir im Plan“, sagt Martin Seißler, „aber wir müssen den Menschen noch mehr klarmachen, dass alle Verkehrsteilnehmer von solchen Lösungen profitieren, sogar die Autofahrer.“ Gibt es Zusagen über mehr als 20.000 Euro, ist die Finanzierungsschwelle geknackt – das Geld wird ausgezahlt. In diesem Fall soll ein drittes Lastenradrad angeschafft und eine Werkstatt aufgebaut werden. Das selbst gesteckte Ziel liegt aber bei 45.000 Euro: Das würde für zwei neue Räder und die Entwicklung einer Logistiksoftware reichen.

Täglich zwei Bewerbungen

Moderne Finanzierungsmethoden, moderne Steuerungsinstrumente – aber die Fortbewegung per Muskelkraft? Gibt es da nicht Vorurteile, so wie manche Menschen sich nicht in eine Fahrradrikscha setzen wollen, weil sie nicht wollen, dass ein Mensch für sie schwitzt und strampelt? „Ja, die gibt es auch“, sagt Seißler. „Im Netz hat sich anfangs eine heiße Debatte darüber entsponnen, ob es ein Fort- oder ein Rückschritt sei, unsere Fahrer an der freien Luft arbeiten zu lassen.“ Aber durch die elektrische Unterstützung könne eine trainierte Person problemlos mehrere Stunden mit dem Lastenrad unterwegs sein. Bei Briefträgern stelle das ja auch niemand in Frage. Und Roland Naumann ergänzt: „Fast täglich gehen bei uns zwei Bewerbungen für einen Fahrerjob ein. So unattraktiv scheint das nicht zu sein.“