: Der Raub der Nivea-Dose
Die Geschichte einer Bagatelle: Weil er Nivea-Creme hat mitgehen lassen, musste sich jetzt ein 71-Jähriger vor dem Amtsgericht verantworten. All der Überlast-Klagen zum Trotz hat sich die Justiz eine Anklage nebst Hauptverhandlung nicht nehmen lassen
von Jan Zier
Unvermittelt bricht es aus ihm heraus. Die Verhandlung gegen ihn ist praktisch gelaufen, und gleich wird die Amtsrichterin das Verfahren gegen Herbert R. einstellen. Wegen Geringfügigkeit. Da erhebt sich der kleine, etwas untersetzte Mann mit den schütteren weißen Haaren von der Anklagebank, ganz abrupt. Gesenkten Hauptes steht er da, mit Tränen in den Augen, Schluchzen in der Stimme. Im Saal 251 wird es ganz still, trotz der Schulklasse, die den Prozess mitverfolgt. „Ich bereue die Tat“, sagt Herbert R. dann. Und daran besteht kein Zweifel.
Vor wenigen Tagen ist er 71 Jahre alt geworden. Man möchte ihn „rechtschaffen“ nennen. Er ist einer, der sich nie etwas hat zuschulden kommen lassen. Nur dieses ein Mal eben, kurz vor Weihnachten vergangenen Jahres. Da ließ er im Supermarkt eine Dose mit Nivea-Creme mitgehen, Preis: 3,29 Euro. Und als dann der Ladendetektiv kam, hat sich Herbert R. einfach losgerissen, ist weitergegangen, zum Ausgang geflüchtet.
Das hat ihm jetzt eine Anklage wegen räuberischen Diebstahls eingebracht. Ein Verbrechen. Darauf steht Gefängnis, nicht unter einem Jahr. Herbert R. ist „gleich einem Räuber zu bestrafen“, sagt der Paragraph 252 der Strafgesetzbuches. Und die Anklageschrift des Staatsanwaltes. Auf den Wert der Creme kommt es dabei nicht an, nur auf den Diebstahl, und darauf, dass Herbert R. „Gewalt“ verübte, „um sich im Besitz des gestohlenen Gutes zu erhalten“. Man könnte das Ganze auch als gewöhnlichen Diebstahl sehen, als einfache Körperverletzung. Dann wäre der Fall des Herbert R. nur ein Vergehen, ein minderschwerer Fall also. Aber darauf wird der Staatsanwalt erst später kommen, am Ende der öffentlichen Hauptverhandlung. Die er Herrn R. hätte ersparen können. Soviel nur zur stetig zu hörenden Klage des Überlastung der Staatsanwaltschaft. Warum es überhaupt zu diesem Prozess kam, darüber spricht in der Verhandlung niemand, auch der Verteidiger vermag es so recht nicht zu erklären.
Herbert R. jedenfalls kann erstmal gar nichts dazu sagen, lässt seinen Verteidiger eine Erklärung abgeben, weil ihm das alles „entsetzlich peinlich“ ist. Er konnte nicht schlafen „wegen dieser Geschichte“, die ganzen letzten Monate über. Noch nicht einmal seiner Frau hat er es erzählt, bis auf den heutigen Tag nicht, und sie soll es auch nie erfahren. Vielleicht ist das auch besser so. „Sie würde sich nur aufregen.“ Frau R. ist schwer krank, der giftigen Dämpfe wegen, die sie früher in der Bremer Silberwarenfabrik einatmen musste. Rente bekommt sie keine, sie hat sich das ganze Geld damals auszahlen lassen, als sie es so dringend brauchte, der Krankheit wegen. Heute haben die beiden nur seine schmale Rente. Einst war er kaufmännischer Angestellter bei der Daimler Benz Aerospace. Doch als in den Neunzigern das Sanierungsprogramm „Dolores“ kam, musste Herbert R. gehen. Seitdem lebt das Ehepaar R. von 1.154 Euro im Monat.
Und auch Herr R. ist krank, hat es mit dem Herzen, hat Diabetes, aber darauf will er sich vor Gericht nicht berufen. „Einmal arm, immer arm“, sagt er dann, am Rande des Prozesses, und erzählt von seiner Kindheit als „Kriegskind“, vom Vater, der als „Krüppel“ aus der Kriegsgefangenschaft kam und schon fast 50 Jahre tot ist. Von seiner kranken Schwiegermutter, die mit ihren 92 Jahren pflegebedürftig im Heim liegt. Von der Ehe, „die ganz durcheinander ist“. Von seinem Hund, der damals gestorben ist, kurz vor Weihnachten, im vergangen Jahr. „Das zieht sich so durch“, sagt Herbert R. dann, noch die Tränen in den Augen. Irgendwann war es dann einfach zu viel. Seine Frau litt unter Hautbeschwerden, wieder einmal, und er hat ihr Creme holen wollen, nicht bezahlt. Eine Kurzschluss-Reaktion. „Eine ganz traurige Geschichte“, wird sein Anwalt später sagen.
Das erkennt schließlich auch der Staatsanwalt, der sich zu guter Letzt „auch eine andere Erledigung“ des Falles vorstellen kann. Zweimal muss sich das Gericht zur Beratung zurückziehen, ehe es eine Entscheidung fällt. Und Herbert R. eine Geldbuße von 150 Euro auferlegt.