Spritz dich, du Sau!

Über böses Blut, Körper, Kultur und Moral: 15 Anmerkungen zu Beichtzwang und Verschwiegenheit im Radsport

VON JÖRG MAGENAU

„Radrennfahrer kennen keinen Schmerz.“ (Jan Ullrich)

1. Der Körper ist alles, was zählt. Die Seele ging im Lauf der Jahrhunderte verloren. Die Haltbarkeit von Weltanschauungen ist begrenzt. Utopien erwiesen sich als zweifelhaft. Der Körper aber bleibt eine verlässliche Größe. Seine Kultstätte, der Sport, ist in Ermangelung metaphysischer Gewissheiten ins gesellschaftliche Zentrum vorgerückt. Die Sportberichterstattung ist der Teil des Feuilletons, der gelesen wird. Wenn es keine besseren Träume gibt, nimmt die Sehnsucht nach Siegen ihren Platz ein. Räder müssen rollen für den Sieg.

2. Mephisto ist heute Mediziner. Faust wählt den Sport. Ein Studium der – leider auch – Theologie kann ihm trotzdem nicht schaden. Der Sport ist das Medium, in dem der Mensch an seine Grenzen stößt. Hier kann er das Quantum dessen, was er zu leisten und zu ertragen vermag, immer weiter erhöhen. Der moderne Faust verkauft dem Teufel seinen Körper, denn eine Seele hat er nicht zu bieten. Schneller will er werden, höhere Berge erklimmen, längere Etappen bestehen. Quäl dich, du Sau!, rief Udo Bölts einst Jan Ullrich zu. Ich hab hier was, sagt Mephisto, probier’s mal damit, das machen doch alle. Spritz dich, du Sau! Der neue Faust besiegelt den Kontrakt nach altem Brauch mit Blut. Allerdings unterzeichnet er damit nicht seine Verträge, sondern gibt es in Beuteln ab, damit es brauchbar bleibt. So viel Blut, um all seine Werbeverträge und Sender-Exklusivrechte damit zu unterzeichnen, hätte er gar nicht. Blut ist ein ganz besonderer Saft. Keiner weiß das so gut wie er. Sein Blut gehört ihm. Was soll daran Doping sein? Mephisto hält sich im Hintergrund zur Verfügung.

3. Der Körper ist ein labiles System, das sich perfektionieren lässt, um seine Leistungsfähigkeit zu steigern. Übermensch und Superman nehmen unter wissenschaftlicher Anleitung Gestalt an. Der Radler verkörpert schon vor jeder Manipulation die perfekte Einheit von Mensch und Maschine, von Muskulatur und Übersetzung, Dynamik und Material. Die aerodynamische Eleganz, mit der er beim Einzelzeitfahren tief geduckt durch die Landschaft flitzt, lässt ihn mit seinem Fahrgerät verschmelzen. Aus medizinischer Sicht ist er ein Datensatz, aufgeschlüsselt in Blutwerte, Lungenvolumen, Herzfrequenz und Körpertemperatur. Er ist bestimmten Verkehrsregeln unterworfen, innerlich beschildert, reglementiert, überwacht. Ärzte und Techniker haben die Hoheit über den Stoffwechsel übernommen. Den Rest besorgen Statistiker und andere Zahlenpropheten. Die Daten summieren sich zur Wattzahl als Output, den der Radrennfahrer auf die Pedale bringt. Bei TV-Übertragungen werden seine Daten gelegentlich eingeblendet, damit auch die Zuschauer die Leistung ermessen können. Radrennfahrer müssen damit leben, dass ihr Körper Intimitäten verrät. Manchmal, bei Stürzen und üblen Verwundungen, kann man unter die Haut blicken. Ihr Körper ist eine öffentliche Angelegenheit. Umso entschlossener schweigen sie darüber, welche Mittel sie ihm zuführen. Das ist ihr Geheimnis. Jedes öffentliche Interesse schafft etwas Verschwiegenes, das hinter der Grenze dessen liegt, was mitgeteilt werden kann. Schwarze Löcher der Kommunikation.

4. Den Körper als ein manipulierbares Eigentum zu betrachten, ist keine Besonderheit des Sports. Auch unter ästhetischen Gesichtspunkten ist es üblich, Optimierungen vorzunehmen. Fettabsaugung und Schönheits-Chirurgie sind gesellschaftliche Normalität, sieht man einmal vom Extremfall jener Amerikanerin ab, die sich in zahlreichen Operationen in ein Abbild der Barbie-Puppe verwandeln ließ. Unter moralischen Gesichtspunkten sind diese Eingriffe „Lügen“. Sie dienen dazu, das eigene Bild in der Öffentlichkeit und damit den eigenen Marktwert zu verbessern, doch sie verleugnen zugleich ihre Methode. Darin sind Schönheitsoperationen dem Doping vergleichbar, und sie sind ebenso von Tabus umstellt. Hollywood-Schauspieler, die ihre Gesichtszüge operativ verschönern oder auch nur straffen ließen, klagen regelmäßig, wenn ebendies öffentlich behauptet wird. Sie verhalten sich wie Radsportler, die auch dann noch leugnen, wenn alle Welt weiß, dass sie gedopt haben. Zum Glaubensbestand unserer Kultur gehört ja auch das Authentische. Schönheit und Leistung müssen „echt“ sein, um als bewundernswert zu gelten. Da haben die dopenden Sportler dann ein Problem. Doping ist ihnen so peinlich wie der Diva ihre chirurgischen Korrekturen. Deshalb reden sie nicht darüber und sprechen sich auch gegenseitig nicht darauf an.

5. Der Sport nimmt die Stelle ein, die früher die Religion besetzte. Marx hätte gesagt: Sport ist Opium fürs Volk. Wir können präzisieren: Opium fürs Volk und Doping für die Athleten. Sport schafft Helden und Heiligengeschichten, mit allen erzählerischen Motiven, die dazu gehören: Aufstieg und Fall, Leiden und Selbstüberwindung, Wiederkehr und Gipfelstürmerei. Sportler sind moderne Mönche, bereit, sich einer strengen täglichen Disziplin zu unterwerfen. Ihre Ziele können sie ohne die Bereitschaft zu Askese nicht erreichen. Die Bergetappen der Alpen und der Pyrenäen lassen sich nicht nur als körperliche Höchstleistungen erleben, sondern auch als metaphysische Erhöhungen: Der Berg ist biblisch gesehen ein Ort der Verkündigung. Wenn man die Radler sieht, wie sie da oben durch die Spaliere der Fans fahren, erinnern sie an Jesus beim Einzug in Jerusalem. Nur dass sie es eiliger haben. Und die Palmwedel sind durch Fahnen ersetzt. Doch was unterscheidet Fans von Gläubigen?

6. Erik Zabel hat im Fernsehen geweint. Das tun Sportler auch nach großen Siegen, so wie der Brasilianer Cacau nach dem 3:2 des VfB Stuttgart in Bochum. Erschöpfung, Ergriffenheit und Erleichterung kommen darin gleichermaßen zum Ausdruck. Cacau wäre nichts ohne seinen Gott, dem er all seine Tore widmet. Sein Glaube gibt ihm Kraft und wirkt sich also positiv auf den Körper aus. In diesem Bereich wurden noch keine Grenzwerte festgelegt. Viele Sportler beten bei jeder Gelegenheit oder schlagen vor dem Start noch rasch ein Kreuz. Das tun sie zur Sicherheit, etwa so, wie sie Fitness-Drinks einnehmen. Kevin Kuranyi sagte einmal mit leichtem Lispeln: Ich glaube schon, dass es etwas bringt. Über die religiösen Präferenzen von Erik Zabel ist nichts bekannt. Für die Fans aber gehört Gott, sofern es ihn gibt, immer zum Unterstützerkreis der eigenen Mannschaft.

7. Sport ist Kultur. Sport produziert Metaphern für den gesellschaftlichen Alltag, ist also Ideologie. Das Prinzip des Schneller, Besser, Mehr ist noch die netteste Variante, auch wenn es sich nicht ewig verlängern lässt. So wie ja auch das Wirtschaftswachstum tendenziell nicht unendlich sein kann. Das Darwinsche Survival of the fittest ist ein Prinzip, das Natur mit Kultur gleichschaltet. Was im Löwenrudel gilt, gilt auch für den Menschen. Die Gnadenlosigkeit, mit der Sportler aussortiert und durch bessere oder jüngere ersetzt werden, sollte allen Anhängern zu denken geben. Das Ranking mit Schulnoten, das etwa das Sportmagazin Kicker im Verlauf einer Saison für jeden einzelnen Fußballspieler errechnet (und aus dem sich sein aktueller Marktwert ergibt), ist im Grunde obszön. Dagegen nehmen sich die viel beschworenen Werte und Ideale eher rührend aus. Der „gute Sportsmann“ gönnt seinem Gegner den Sieg. Er sagt: Der Bessere soll gewinnen. Die Legende lehrt aber auch: Als Jan Ullrich auf den gestürzten Lance Armstrong wartete, hat er die Tour verloren. Man muss sich demnach also entscheiden, ob man ein Sieger oder ein guter Mensch sein will. Zabel weinte, als er über seinen Radrennen fahrenden Sohn sprach: Gerade und aufrecht soll er werden. Kann er das noch, nachdem er weiß, was sein Vater getan hat? Das war die Stelle der Pressekonferenz, an der auch hartgesottene Journalisten feuchte Augen bekamen.

8. Sport ist ein Wirtschaftsfaktor. Im Radsport ist das offenkundig, denn nirgendwo sonst hat sich das System des Sponsorings so sehr in den Vordergrund geschoben. Fußballclubs verkaufen Trikotflächen und Stadionnamen, aber sie haben davon unabhängig ihre Tradition und ihre Identität. Im Radsport sind Teams und Sponsoren identisch. Die Teams hören auf zu existieren, wenn die Sponsoren sich zurückziehen. Dass Fans trotzdem in den Trikots dieser Mannschaften herumlaufen und sich damit zu Reklametafeln machen, ist ein Wunder, das außer dem Sport keine andere Religion zustande bringen könnte. Noch heute sieht man an sonnigen Wochenenden gelegentlich Menschen im Bianchi-Trikot durch die Gegend radeln. Vielleicht gelingt es ihnen, sich für winzige Momente mit dem Jan Ullrich von 2003 zu verwechseln. Jedenfalls sind sie in diesem Dress ganz bestimmt schneller. Das können sie fühlen. Daran könnte auch kein Doping-Geständnis ihres Vorbilds etwas ändern.

9. Sponsoren sind wie Fans. Sie wollen Sieger, denn Sieger sehen besser aus. Mit welchen Methoden Sieger zu Sieger werden, braucht sie nicht zu interessieren. Wer behauptet, das Sportsystem würde auch ohne Doping funktionieren, könnte genauso gut behaupten, dass der Kapitalismus zur Not auch ohne Kapital funktioniert. Tränenreiche öffentliche Bekenntnisse würden dann in einiger Zukunft so ablaufen: Ja, ich habe es für Geld gemacht. Ich habe das Geld von meinem Teamleiter bekommen. Ich habe es später dann auch ausgegeben. Die Dosis wurde immer weiter erhöht. Vor fünf Jahren habe ich damit Schluss gemacht. Es tut mir leid. Ich entschuldige mich dafür. – Der Heuchelfaktor solcher Geständnisse wäre identisch mit dem der gegenwärtigen Dopingbekenntnisse.

10. Das System des Sponsorings beruht auf der öffentlichen Anteilnahme. Je massenwirksamer ein Sport ist, umso stärker das Interesse des Kapitals, ihn zu durchdringen und für sich nutzbar zu machen. Der Radsport wurde hierzulande als Randsportart vorgefunden und erst durch das Interesse der Sponsoren nach oben gebracht. Der Erfolg, der sich aus der Konkurrenz um Aufmerksamkeit und dem daraus folgenden Zwang zum Doping ergibt, schafft zugleich aber auch das große öffentliche Interesse, in dem der Betrug immer schwerer durchzuführen ist. Doping macht den Sport erst groß – gemeinsam mit dem Medium, das ihn überträgt. Dann aber macht es beide unmöglich. Die systematische Lüge, das Schweigen, die Paktiererei sind dann nicht länger zu halten. Das eingesetzte Kapital, das nach Siegern verlangt, besitzt eine enorme Produktivkraft, die aber schließlich durch ihre inneren Widersprüche das zerstört, was sie hervorgebracht hat. Das ist ein auch im Sport wirksames ökonomisches Grundgesetz.

11. Die öffentliche Antwort auf diesen Widerspruch ist die Moral. Das Vokabular wird kirchlich, wenn öffentlich wird, was im Verborgenen geschieht. Die Öffentlichkeit ist eine mächtige Kirche. In den Reaktionen auf die Geständnisse dopender Radfahrer ist von Betrug die Rede, von Vergehen und Lügen. Die Fahrer sprechen vom „falschen Weg“ und bitten um Vergebung. Sie legen Geständnisse ab wie Sünder im Beichtstuhl. Wenn dazu auch noch geweint wird, wie Erik Zabel das so glaubwürdig praktizierte, dann dienen diese Tränen als Reinigungsflüssigkeit für uns alle, die wir schuldig geworden sind. Schließlich partizipieren auch wir Gaffer vor der Glotze am System. Ohne uns wäre der ganze Aufwand vergeblich. Der „Verbraucher“ hat auch im Sport die Macht. Weil er das ahnt, weint er ein bisschen mit. Aus Selbstmitleid.

12. Der Bekenntnisdruck der Öffentlichkeit ist so groß, dass Zabel beichtete, obwohl er fast gar nichts zu beichten hatte. Sein Bekenntnis, 1996 für eine Woche mit Epo experimentiert zu haben, gleicht dem des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton, der an seiner Haschisch-Zigarette ohne zu inhalieren gezogen haben will. „Ich habe nicht inhaliert“, hätte Zabel sagen können. Dann hätte er aber auch nicht weinen dürfen und seine Beichte hätte an Schönheit verloren. Angesichts des enormen „Drucks“, von dem täglich die Rede ist, muss man das hartnäckige Schweigen Jan Ullrichs fast schon wieder bewundern. Zunächst war es eine Dummheit, nichts zu sagen. Dann war es Trotz. Jetzt ist daraus Widerstand geworden.

13. Die Moral der Sportler funktioniert anders als die des Publikums. Sie haben getan, was sie tun mussten, wenn sie vorne dabei sein wollten. Sonst hätten sie ihren Job verloren, das Team seinen Sponsor, der Sponsor die übertragende Fernsehanstalt und die Fernsehanstalt ihre Zuschauer. Alles hängt mit allem zusammen, und alles hängt an der optimalen Leistung. Das entschuldigt nichts. Aber der Verweis auf das System, das eben so funktioniert, dass jeder funktionieren muss, wenn er mitspielen will, ist trotzdem nicht falsch. Schweigen ist Loyalität. Reden ist Verrat. Wenn nur der mithält, der dopt, und jeder glaubt, dass alle es tun, dann ist der der Dumme, der von nichts weiß oder der nicht mitmachen möchte. Dann ist Betrug eine ungenaue Bezeichnung für das, was sich ereignet hat. Dann ist der Sieger immer noch der Beste unter Gleichen. Der Gewinn, der sich in durchschnittlichen wirtschaftlichen Transaktionen einstellt, ist schließlich auch kein Betrug, sondern eine wohlverdiente Rendite.

14. Spitzensportler verdienen Millionen. Weil sie genug davon haben, interessiert sie das Geld nicht als Geld, sondern als Zahl. Es ist der quantifizierbare Ausdruck ihres Erfolgs. Deshalb wollen sie mehr davon. Mit der Leistung des Körpers müssen auch die Erträge optimiert werden. Ruhm verblasst schnell. Alte Siege sind so alt wie die Zeitung von gestern. Das Geld aber bleibt übrig wie eine schöne Erinnerung.

15. Im neuen Faust-Drama hockt Faust im T-Mobile-Trikot nach einem Sturz am Straßenrand und zitiert einen Vers von Brecht: Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld?