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Archiv-Artikel

Jeder Fleck Lebendigkeit

FOTOGRAFIE Das langsame Sehen wieder erlernen: Monique Jacot im Verborgenen Museum

Die Blütenrispe im Vordergrund leuchtet, fast wie im Licht eines Blitzes. Die Fläche dahinter ist dunkel, und es dauert, bis das Auge darin die Spiegelung eines Waldes im Wasser eines Sees erkannt hat. Mittendrin steht winzig ein Angler, bis zum Po im Wasser, ein heller Punkt in der Dunkelheit.

Es ist gut, dass man Zeit braucht, um sich in dieser Fotografie von Monique Jacot von 1974 zu orientieren; denn so erhält die Stille, die über dem See liegt, möglicherweise eine Chance, sich im Betrachtenden auszubreiten. Vielleicht kann man mit den Bildern dieser Schweizer Fotografin, die vom Verborgenen Museum in Berlin-Charlottenburg ihre erste Ausstellung in Deutschland erhält, ein langsames Sehen wiedererlernen. Fotografien gucken sich leicht so schnell weg. Bei vielen der schwarz-weißen Reportagen und fotografischen Essais von Jacot springt einen indes eine Lust am innerlichen Nacherzählen und Ausbuchstabieren des vor Augen Liegenden an. Man möchte mit den Abgebildeten noch ein wenig Zeit verbringen.

Die frühesten Bilder der Ausstellung gelten Kindern zu Beginn der 1950er Jahre. Drei Jungs mit Strickmützen hocken in einem Auto, drehen am Steuer, spielen Fahren, langweilen sich, warten. Es scheint kalt zu sein und wenig sich anzubieten, aus diesem Tag noch ein Abenteuer zu machen. Sie markieren Gelassenheit, aber eigentlich sind sie enttäuscht, aufs Erwachsenwerden noch warten zu müssen, das dauert viel zu lang. All das könnte das Bild erzählen.

Monique Jacot, 1934 geboren, ist in der Schweiz vor allem für ihre Auseinandersetzungen mit Lebens- und Arbeitswelten von Frauen bekannt und geschätzt, die in Zeitschriften wie Du, Die Woche, Annabelle, Elle, Vogue und anderen veröffentlicht wurden. Davon stellt das Verborgene Museum Ausschnitte vor, und jedes Mal würde man gerne noch mehr sehen. Das beginnt 1969 mit einem Besuch im Internat „Les demoiselle de la Legion d’Honneur“: In einer einschüchternd prächtigen Architektur bilden die in einer Linie aufgereihten Körper der Mädchen ein bestürzendes Ornament von Bravheit und Disziplin. Eine große Empathie erzeugen auch die „Femmes de la terre“ (1984–1989), Bilder von Bäuerinnen aus der Romandie, deren Familien Jacot über fünf Jahre immer wieder besuchte, ihre Bilder mit ihnen diskutierte. Frauen, die Gänse und Hühner rupfen, die Kälber versorgen, Zwiebeln ernten – nichts wird beschönigt oder verklärt, aber ein stiller Respekt vor dem gelassenen Rhythmus der Arbeit, der Kraft der Körper, der Geduld und der Bescheidenheit, wächst von Bild zu Bild. Jeder Flecken in diesen Fotografien, ob im Fell einer Kuh, im Muster einer Schürze, im Putz einer Wand, atmet Lebendigkeit und Gewordensein.

Ein anderes Mal blickt man auf ein schwarzes Pferdchen auf einer Wiese; das Seil, mit dem es angebunden ist, und etwas Gestrüpp im Vordergrund leuchten eigenartig weiß, wahrscheinlich von Eiskristallen besetzt. Es ist noch nicht Winter, aber man hört ihn schon knistern. Das Bild lässt ihm Zeit, langsam zu kommen.

KATRIN BETTINA MÜLLER

■ Im Verborgenen Museum, Schlüterstraße 70, Do,–Fr, 15–19 Uhr, Sa.–So. 12–16 Uhr, bis 1. März 2015