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Archiv-Artikel

Sieg der Gleichgültigkeit

40 Jahre nach dem Sechstagekrieg herrscht Israel noch immer über die Palästinenser. Die meisten Israelis verdrängen diese Realität und träumen von einseitiger Trennung

Gideon Levy berichtet für die israelische Tageszeitung „Ha’aretz“ aus den palästinensischen Gebieten. Die ungekürzte Fassung seines Beitrags erscheint in der aktuellen Ausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ (6/2007).

Vor zwei Jahren bestand die israelische Besatzung bereits 38 Jahre lang. Schon damals also existierte Israel mit Besetzung der palästinensischen Gebiete doppelt so lange wie ohne – 19 Jahre von 1948 bis 1967, und 38 Jahre von 1967 bis 2005. Doch noch immer gibt es unter Israelis und in der Welt die Tendenz, die Besetzung als etwas Vorübergehendes zu betrachten, nach dem Motto: In ein, zwei Jahren wird sie vorbei sein. Niemand kann diese Behauptung noch ernst nehmen. Denn wenn ein Staat doppelt so viele Jahre mit Besetzung existiert wie ohne, dann wird diese zur Normalität, und die Jahre ohne Besetzung verblassen und werden historisch gesehen zur Ausnahme.

Zudem kann niemand behaupten, dass die Besetzung vor ihrem Ende stehe. Wenn heutzutage von einer Rückgabe der Gebiete die Rede ist, dann heißt das, eine Viertelmillion Juden zu evakuieren. Das ist zwar nicht unmöglich. Aber vor Ort sind inzwischen viele Tatsachen geschaffen worden, allen voran die Trennmauer. Heute gibt es eine neue Realität. Leider schenken ihr die meisten Israelis keine Beachtung. Die junge Generation fährt dort nicht hin, es sei denn, man ist Siedler oder orthodoxer Jude oder ein Extremist, ein Rechter. Der durchschnittliche Israeli war nie im Leben dort und hat auch keine Ahnung, was sich dort abspielt.

Die israelische Gesellschaft ist sehr gleichgültig geworden, vor allem seit dem Jahr 2000. Nach dem Scheitern von „Camp David II“, als Premier Ehud Barak nach Israel zurückkehrte und erfolgreich die Lüge verbreitete, es gebe auf palästinensischer Seite keinen Partner für den Frieden, und nachdem die Busse in den Straßen von Tel Aviv, Haifa und Jerusalem explodierten, lösten sich die Israelis ganz und gar von jeglicher Verantwortung und Sorge, von Interesse und Neugierde an dem, was in den Gebieten geschieht. Dabei ist die fortdauernde Besetzung nach wie vor das Problem Nummer eins – nicht nur für die Palästinenser, sondern auch für die Israelis. Doch dieses Problem wird nicht mehr diskutiert, es wird unter den Teppich gekehrt.

Bis vor zehn Jahren haben sich Israelis und Palästinenser immerhin getroffen, wenn auch nicht auf gleicher Augenhöhe. Die Palästinenser kamen nach Israel, um die Straßen zu kehren, um als Bauarbeiter Häuser zu bauen, auf den Feldern zu arbeiten oder in den Restaurants Geschirr zu spülen. Sie trafen sich, und so entstanden soziale Beziehungen und gar Freundschaften.

Doch in den letzten zehn Jahren wurden die beiden Völker vollkommen getrennt. Ein junger Durchschnittspalästinenser hat heute noch nie einen Israeli zu Gesicht bekommen, der kein bewaffneter Soldat wäre, der ihn nicht anbellt und mit ihm spricht, als sei er kein Mensch, der ihn nicht bedroht und demütigt. Und kein junger Israeli ist jemals einem Palästinenser begegnet, der kein Selbstmordattentäter oder Terrorist wäre. Beide Völker tragen nun verdrehte und ausschließlich negative Bilder ihres Gegenübers in sich. Es gibt keinen Ort der Begegnung mehr.

In der Vergangenheit gab es den Witz: zwei Israelis, drei Meinungen. Heute haben drei Israelis nur noch eine Meinung. Der eigentliche Traum, die eigentliche Vision jedes Israelis – egal, ob er ein Linker ist oder ein Rechter – ist, keine Palästinenser mehr vor Augen haben zu müssen. Etwas wird geschehen, ein Wunder oder eine Katastrophe, damit diese Menschen aus unserem Gesichtsfeld verschwinden. Deshalb hat Israel die Trennmauer gebaut: um sich so weit wie möglich abzuschirmen.

Seit zehn Jahren gibt es keine Begegnungen mehr. Die Gegenseite wird entmenschlicht und dämonisiert

Diese systematische Anstrengung, sich zu trennen, und dieser heimliche Traum, dass sie, die Palästinenser, eines Tages nicht mehr hier sein werden – das ist heute die tatsächliche Vision der meisten Israelis. Niemand in Israel spricht noch von Frieden. Sehr wenige Israelis glauben, dass es Frieden geben kann. Und sehr wenige Israelis wollen überhaupt noch Frieden mit den Palästinensern schließen.

Es kommt jedoch noch ein anderer Faktor hinzu: Das ist der systematische Prozess der Entmenschlichung und Dämonisierung der Palästinenser. Nur wenige Israelis sind Sadisten, Faschisten, Nationalisten, Rassisten. Viele sind gut gebildet, besitzen Werte und Moral. Sie nehmen an einer humanitären Rettungsaktion in der Türkei oder Mexiko teil und sie würden einer alten Frau beim Überqueren der Straße helfen, selbst wenn sie nicht will. Was aber geschieht mit ihnen, wenn sie zur Armee gehen und die „Grüne Linie“ zu den besetzten Gebieten überqueren, um dort zu dienen?

Die meisten Israelis sehen die Palästinenser nicht als gleichwertige menschliche Wesen an. An den Kontrollpunkten sieht man wirklich Dinge, für die man einige Zeit benötigt, um sie zu glauben. Was wird aus einem jungen Mann werden, der drei Wochen an einem Kontrollpunkt in einem Dorf bei Kalkilia zubrachte? Das ist ein Dorf, das jede Nacht zwischen 22 und 6 Uhr mit einem Schlüssel zugesperrt wird und niemand kann heraus, niemand hinein.

Ich erinnere mich an eine meiner ersten Geschichten. Es war 1989, damals gab es noch keine Mauer und keine massiven Kontrollpunkte, wie wir sie heute haben. Es ging um eine Beduinin, die vor der Niederkunft stand und deren Baby starb, nachdem sie nacheinander an drei Kontrollpunkten abgewiesen worden war. Ich schrieb darüber, und der Artikel hatte in Israel einen großen Skandal zur Folge. Drei Offiziere wurden verurteilt, und der Vorfall wurde auch in einer Kabinettssitzung diskutiert. Bis heute, fast zwanzig Jahre später, habe ich mehrfach ähnliche Geschichten veröffentlicht über Frauen, die ihre Babys an Kontrollpunkten verloren. Doch niemand hat es gekümmert. Die israelische Gesellschaft liegt im Koma. Sie ist in einem Zustand der Apathie und der moralischen Gleichgültigkeit gefangen.

Israel mangelt es an jeglicher Führung, die mutige Schritte gehen könnte. Und leider gibt es auch in Washington keinen hingebungsvollen amerikanischen Präsidenten, der der Besatzung ein Ende setzen würde. Es wird auch in Zukunft vermutlich keinen solchen Präsidenten geben, und Europa ist nicht einflussreich genug und hat eigene Schwierigkeiten. Die Welt ist gleichgültig und wird immer gleichgültiger, sie ist dieser langen Auseinandersetzung überdrüssig und spricht immer weniger über Palästinenser und Israelis. Es gab einmal einen amerikanischen Außenminister, James Baker, von dem der unvergessliche Satz stammt: „Lasst sie bluten.“ Der größte Teil der Welt denkt heute so: Wir haben es versucht, hatten aber keinen Erfolg. Es ist unmöglich, aus dieser Lage herauszukommen. Deshalb lasst sie bluten.

Früher ging der Witz: zwei Israelis, drei Meinungen. Heute haben drei Israelis nur noch eine Meinung

Dieses „Lasst sie bluten“ ist fatal für uns Israelis. Denn je länger die Besatzung fortbesteht, desto mehr wird Israel zu einem noch ungerechteren und unmoralischeren Ort. Terror hat Gründe und Wurzeln. Und er hat Ausreden und Vorwände. Die israelische Besatzung ist heutzutage ein Hauptvorwand für viele Terrororganisationen und der Hauptgrund für den palästinensischen Terrorismus.

GIDEON LEVY