Imame sollen Jugendliche auffangen

WEITERBILDUNG Ab Januar bietet die Uni Osnabrück eine Weiterbildung für Imame an. Neben Unterricht in deutschem Recht und Geschichte sollen die muslimischen Prediger lernen, wie sie Jugendliche vor dem Abgleiten in den Extremismus bewahren können

VON EVA THÖNE

Bülent Ucar legt Wert auf die Erwähnung, dass die Idee zu seinem neuen Lehrprogramm für Imame schon vorher da war: vor den Berichten über 16-jährige Mädchen, die heimlich in IS-Ausbildungslager nach Syrien reisten. Vor den Interviews mit jungen Männern, die ankündigen, die eigene Familie zu töten, falls diese sich gegen die Terrormiliz stelle.

„Die Medien reagieren dann, wenn etwas passiert. Und in den letzten paar Monaten ist viel passiert“, sagt Ucar, Leiter des Instituts für Islamische Theologie an der Uni Osnabrück. „Wir beobachten durch Kontakte mit Moscheegemeinden aber schon seit zwei Jahren, dass es in der muslimischen Community einen großen Nachholbedarf beim Umgang mit Jugendlichen gibt.“ Deshalb bilden den Schwerpunkt der neuen Weiterbildung für Imame an seinem Institut Jugendarbeit und Extremismusprävention.

An der Uni Osnabrück können ab kommendem Januar 30 Imame und seelsorgerische Mitarbeiter von Moscheen an dem Lehrangebot teilnehmen – ein bundesweit einzigartiges Projekt, im ersten Jahr gesichert durch eine Anschubfinanzierung durch das Land Niedersachsen. Zwei Semester lang besuchen die Imame Blockseminare zum politischen System und zur Geschichte Deutschlands, hören Vorträge zu islamischer Pluralität, etwa zu Unterschieden zwischen Sunniten und Schiiten.

„Wir werden vor allem aber religiösen als auch politischen Extremismus als Phänomen und seine Ursachen untersuchen“, sagt Esnaf Begic, ein Institutsmitarbeiter, der den Lehrplan mitentwickelte. „Die Imame haben in ihren Gemeinden als religiöse Autoritätspersonen großen Einfluss, deshalb ist es sinnvoll, bei ihnen anzusetzen“, sagt Begic, der vor seiner Doktorandenstelle selbst sechs Jahre lang als Imam arbeitete. „An mich wandten sich die Menschen mit Fragen zum Glauben, aber auch zu Familienstreit, Sexualität und persönlichen Krisen.“

Bei der Auswahl der Dozenten werde darauf geachtet, dass diese nicht nur aus der Wissenschaft, sondern auch aus der Praxis, etwa aus MigrantInnenvereinen, stammten. „Wir wollen Anstöße erarbeiten, wie einer Radikalisierung auch im realen Leben entgegengewirkt werden kann.“ Wie das aussehen könnte? „Natürlich gibt es da kein allgemein gültiges Rezept“, sagt Begic. „Aber man muss gewappnet sein für das Gespräch mit einem Jugendlichen, der sich vielleicht in einer Identitätskrise befindet, aber noch vor dem Abgleiten in den Extremismus bewahrt werden kann.“

Uniprofessor Ucar erzählt von einem 17-jährigen Jugendlichen, der ihn fragte, ob Islam und Demokratie nicht unüberbrückbare Gegensätze seien: „Wenn die Mehrheit über die Minderheit richtet, erheben sich dann nicht die Menschen zu Gott?“ Ucar ist sicher: „Menschen, die solche Gedanken haben, sind tendenziell gefährdet, mit denen müssen wir theologisch diskutieren.“ Geantwortet hat er damals, „dass die 51 Prozent Mehrheit ja nicht alles tun kann. Es ist keine absolute Herrschaft, weil die elementaren Grundrechte an anderer Stelle gesichert sind“.

Viele der Imame, die heute in deutschen Moscheen arbeiten, gehören einer Generation an, die ihre theologische Ausbildung noch im jeweiligen Heimatland absolvierte – sie würden laut Begic häufig unsicher, wenn sich Jugendliche zwischen deutscher Gesellschaft und Glauben verlören. „Die Imame verfügen über theologische Kompetenzen, aber haben oft Mängel, wenn es um Pädagogik und ein Verständnis der deutschen Gesellschaft geht.“

Auch wenn in Deutschland im Moment vor allem über Extremismusprävention diskutiert wird, geht es in dem Weiterbildungsprogramm nicht nur um die Jugendlichen, sondern auch darum, dass die Imame selbst heimischer werden in Deutschland. Bereits vor vier Jahren bot die Uni Osnabrück das Programm an, damals aber nur für 15 Imame und ohne Extremismusschwerpunkt. In den Seminaren standen Geschichte, Rechts- und Parteiensystem und ein Ausflug in den deutschen Bundestag auf dem Lehrplan.

Einer, der damals teilnahm, war Mehmed Jakubovic. In Sarajevo hatte er Theologie studiert, vor dem Krieg zwischen Kroatien und Serbien floh der heute 55-Jährige nach Deutschland. Dort arbeitete er 20 Jahre als Imam, erst in Osnabrück, dann in Aachen. Das Gefühl, in Deutschland angekommen zu sein, hatte er lange nicht. „Du kannst dich leicht auf die Traditionen der Gemeinde zurückziehen“, sagt der Imam. „Ich ging in die Geschäfte, sagte Hallo und Tschüss – das war der Kontakt mit Deutschland.“ Die Weiterbildung habe ihm geholfen, sich am richtigen Platz zu fühlen.

Besonders beeindruckten ihn die Seminare über die deutsche Verfassung: „Wie Religionsfreiheit durch das deutsche Recht geregelt wird, das fasziniert mich bis heute“, sagt Jakubovic. Davor konnte er das Juristendeutsch, das im Artikel 4 des deutschen Grundgesetzes die Religionsfreiheit sichert, zwar lesen: „Verstanden habe ich es aber nicht, dazu brauchte ich die Auslegung eines Experten.“

Jakubovic findet, dass er selbstbewusster ist seit der Fortbildung. Nach dem Programm gründete er eine Erwachsenengruppe, die sich einmal in der Woche trifft, um sich über Glauben und Gesellschaft auszutauschen; durch die Bescheinigung über die Weiterbildung bekam er eine Stelle als islamischer Religionslehrer angeboten. Jakubovic würde sich wünschen, die Imame auch durch den beruflichen Alltag zu begleiten. Denn immer, wenn er von den Seminaren in Osnabrück in seinem Auto die zwei, drei Stunden zurück nach Aachen fuhr, fühlte er sich froh und gedanklich entzündet: „Wie ein Ofen.“