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Archiv-Artikel

„Die Eltern bleiben dominant“

Schadet es meinem Kind, wenn ich es in eine Krippe gebe? Das kommt auf die Krippe an, sagt die Bindungsforscherin Lieselotte Ahnert – und auf die Eltern

LIESELOTTE AHNERT, 55, Professorin für Entwicklungsförderung an der Uni Köln, hat mehrere Jahre am NICHD gearbeitet. 2004 erschien: „Frühe Bindung. Entstehung und Entwicklung“.

INTERVIEW HEIDE OESTREICH

taz: Müssen Eltern sich sorgen, wenn sie ein heulendes Kleinkind in der Kita lassen?

Lieselotte Ahnert: Das hängt von der Qualität der Kita ab. Diese zusätzliche Betreuung ist zweifellos eine Belastung für das Kind, das konnten wir in eigener Forschung zeigen. Selbst wenn ein Kind viel Urvertrauen in seiner Familie gewonnen hat, geht der Stresspegel in der Anfangszeit hoch, wenn die Eltern weggehen. Diese Stressmuster können ErzieherInnen aber gut herunterpegeln, wenn sie das Kind in der Eingewöhnungszeit richtig kennen gelernt haben.

„Das Kind ist eben noch zu klein“, meint die Hälfte aller Eltern in Deutschland.

Nein. Das Kind ist nur in einer sensiblen Phase, in der die Auseinandersetzung mit Bindungspersonen extrem wichtig ist. Diese Phase dauert übrigens auch mit zwei und drei Jahren noch an. In dieser Zeit lernt das Kind jedoch auch, damit umzugehen, dass die ursprüngliche Bindungsperson mal nicht da ist und andere einspringen. Nur muss diese Erfahrung eben gut gestaltet werden. Für Kleinkinder ab einem Jahr muss die Beziehung zu den neuen Bindungspersonenstark „dyadisch“ entwickelt werden: Das Kind muss sich als angenommener Dialogpartner empfinden. Deshalb sollen die Gruppen auch extrem klein sein: eine Betreuungsperson auf drei bis vier Kinder.

Und wenn nun keine solche Super-Kita in der Nähe ist?

Dann gibt es ein Risiko. Wenn die Gruppen zu groß sind und nicht dynamisch reguliert werden, steigen auch die Aggressionspegel, und das ist schlecht. Kleinkinder geraten alle zwei Minuten in Konflikte, sie entwickeln ihre soziale Kompetenz gerade erst. Sie haben nur etwas von der Gruppe, wenn die ErzieherInnen relativ oft eingreifen.

Laut der großen US-Langzeitstudie NICHD können sich Kinder, die lange Zeit in der Kita verbrachten, schlechter konzentrieren und bekommen etwa schneller Wutanfälle. Ein Grund zur Sorge?

Diesen Trend gibt es, auch wenn die Studie betont, dass solche Auffälligkeiten nicht im „klinischen Bereich“ liegen, also nicht therapiert werden müssen. Wir müssen auf die Belastungen durch den Kita-Besuch achten. Wir können beobachten, dass Kinder dort bestimmte Emotionen unterdrücken. Danach leben sie die bei demjenigen aus, der sie abholt: Dann sind sie quengelig und fordern eine Menge Zuwendung. Wenn das Kind nun zu lange in der Kita ist, bleibt zu wenig Zeit, um bei den Eltern aufzutanken. Diese Zeit müssen die Eltern ernst nehmen.

Sollen Eltern im Zweifelsfall ihre Arbeitszeit reduzieren?

Ja. Sollte das nicht möglich sein, kann die Stressreduktion aber auch durch andere Personen erfolgen, die Oma, die Nachbarin. Die Hauptsache ist, dass diese Personen zum sozialen Netz des Kindes gehören.

Wie viel verschiedene BetreuerInnen verträgt ein Kind?

Das ist schwer zu sagen. Eine amerikanische Studie hat Anfang der Neunziger die Kinder der Efe in Zentralafrika untersucht. Sie werden vom ersten Lebenstag an „herumgereicht“ – von bis zu 14 Personen pro Stunde. Jeder trägt sie mal: größere Kinder, Erwachsene, Verwandte, Nachbarn. Die Mutter selbst kümmert sich weniger als die Hälfte der Zeit um das Kind. Und diese Kinder sind extrem friedlich und entwickeln überraschenderweise ebenfalls gute Bindungen zu ihren Müttern.

Dennoch denken viele: Wenn ich das Kind weggebe, bin ich schlecht.

Ja, dazu gibt es eine interessante Studie aus Westberlin vor der Wende: Mütter, die ihre Kinder in Krippen brachten, waren verunsichert und ambivalent: Sie wollten berufstätig sein und hatten dennoch ein schlechtes Gewissen. Die Kinder spürten diese Ambivalenz und es entwickelte sich vielfach keine optimale Mutter-Kind-Beziehung. Das hatte mit den Kitas selbst nichts zu tun. Die Beziehung zur Mutter wird von ihr selbst bestimmt.

Diese Mütter machen sich selbst das Leben schwer?

Ja. Denn es gibt auch Studien, die zeigen, wie unterstützend die Kita sein kann. Die mütterliche Fürsorglichkeit verbessert sich entscheidend, wenn die Mutter bei der Betreuung entlastet wird. Sie ist entspannter, kann besser auf ihr Kind eingehen.

Eines der Argumente für Krippen ist die frühkindliche Bildung. Nun hat aber die NICHD-Studie gezeigt, dass die Kinder, die zu Hause waren, die kognitiven Defizite später in der Grundschule wieder aufholen. Stimmt das Argument also gar nicht?

Wenn das Kind Eltern hat, die sich für seine Bildung interessieren, dann kann es diese Bildung natürlich auch in der Familie erfahren, das hat NICHD auch gezeigt. Es gibt aber eben auch die vielen Fälle, in denen die Eltern nicht so ein optimales Umfeld bieten können.

Wie viel davon kann die Krippe kompensieren?

Nicht so viel, wie wir uns wünschen. Eines der wichtigsten Ergebnisse der NICHD-Studie ist ja, dass der Einfluss der Eltern der schwergewichtigere ist. Gute Eltern können eine weniger gute Krippe kompensieren, aber eine gute Krippe kann schlechte Eltern nicht vollständig ausgleichen. Deshalb ist die Gegenüberstellung Krippe/Eltern falsch: Die Eltern bleiben dominant. Die Frage ist: Was kommt zum Einfluss der Eltern hinzu?

Wenn also eine gut gebildete Mutter mit Freuden zu Hause bleibt, um dem Kind optimale Startchancen zu geben, ist das gut und richtig?

Dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden. Allerdings können sich viele Frauen nicht mehr leisten, sich für längere Zeit aus dem Beruf zu verabschieden. Damit würden sie sich ihre eigenen Bildungschancen verbauen. Der europäische Trend ist eher so, dass gut gebildete Mütter eine gute Betreuung für ihr Kind so aussuchen, dass dann beiden gedient ist. Die Eltern achten dann auf genügend Zeit, um das Kind weiterhin gut zu begleiten.

Ist es egal, ob Vater oder Mutter diese Begleitung übernehmen?

Ja, im Prinzip schon. Väter und Mütter gehen zwar unterschiedlich mit ihrem Kind um. Kurz gesagt: Wenn’s heult, ist die Mutter dran. Aber das sind eingeübte Rollenmuster, die sich auch schnell verändern können: Alleinerziehende Väter entwickeln in kürzester Zeit diese „mütterlichen“ Qualitäten.

„Bei der Mutter ist’s am besten“: das idealisiert die Mütter ganz schön, oder?

Ja, die mütterliche Fürsorglichkeit zeigt eine unglaublich große Bandbreite. Das hängt von der psychischen Struktur der Mütter ab. Wenn sie mit ihrer Bindungsbeziehung nicht zurechtkommen, werden sie dem Kind die entsprechenden sozialen Kompetenzen unbewusst nicht beibringen.

DIE NICHD-STUDIE ÜBER DIE FOLGEN DER KRIPPENERZIEHUNG

Schadet die Krippe dem Kind? Eine der wenigen Langzeitstudien weltweit, die sich damit beschäftigen, ist die NICHD-Studie des „National Institute of Child Health and Human Development“. Seit 1991 verfolgen EntwicklungspsychologInnen die Entwicklung von gut 1.000 Kindern in zehn unterschiedlichen Gemeinden von ihrer Geburt an. Dabei werden kontinuierlich Ergebnisse der Forschung veröffentlicht. Die Frage Krippe oder Eltern hat sich dabei schnell relativiert: Die Qualität der Elternbeziehung war immer am wichtigsten. Schlechte Eltern schaden Kindern mehr als schlechte Krippen. In schlechten Krippen sind Kinder gestresst, in guten weniger. In kürzlich veröffentlichten neuen Ergebnissen verschiebt sich der Eindruck etwas: Krippenkinder, die in den Kindergarten kommen, werden von Erzieherinnen als etwas aggressiver als daheim Betreute wahrgenommen. Sie seien öfter in Konflikt mit ihrer Umgebung geraten. Je mehr Zeit sie in der Krippe verbrachten, desto eindeutiger war der Befund. Welche Auswirkungen dieses Konfliktverhalten auf die seelische Gesundheit dieser Kinder hat, konnten die Forscher noch nicht sagen.

NICHD im Internet: http://secc.rti.org/, neueste Ergebnisse zusammengefasst in der Zeitschrift „Child Development“ unter www.blackwell-synergy.com/links/toc/cdev/74/4

Der Bindungstheoretiker John Bowlby, auf den sich die Krippengegner gern beziehen, hat die gute Mutterbindung immer sehr betont. Wie viel Schuld hat er an der Mutterideologie?

John Bowlby hat in den Sechzigern erstmals die realen Beziehungen des Kindes in den Blick genommen, gegen die Psychoanalyse, die alles auf die innerpsychische Triebstruktur zurückführte. Das war sein großes Verdienst. Doch die Anthropologie, auf die er sich bezog, hatte damals gerade einen Stamm entdeckt, in dem die Mütter die Babys immer im Tuch bei sich trugen. Das hat Bowlby dann als die „natürliche“ Art der Kleinkindversorgung angesehen und sich deshalb gegen die „public nurseries“ ausgesprochen.

Also ist er schuld?

Er ist nicht schuld. Es ist aber das Wissen von vorgestern. Schuld ist, wer nicht zur Kenntnis nimmt, dass Kinder auch andere Bindungspersonen neben ihren Eltern haben können. Diese „wichtigen anderen“, wie die Bindungsforschung sie nennt, können eine bedeutende Rolle spielen – wie die ErzieherInnen etwa. Die Bindungsforschung hat sich einfach weiterentwickelt.

Die Krippengegner kritisieren, dass es den Krippenausbau im Moment nur gibt, um das weibliche Humankapital dem Markt zuzuführen.

Für mich steht die außerfamiliare Betreuung unter dem Stichwort „multiple caretaking“: Verschiedene Betreuer nehmen unterschiedliche Funktionen für das Kind ein, damit dieses sich gut entwickeln kann. Und das ist eine Betreuungsform, die wir überall und zu allen Zeiten finden, nicht nur im Kapitalismus.

Mütter, die ihre Kinder zu Hause betreuen, fühlen sich mit dem Krippenausbau in die Ecke gedrängt. Was raten Sie eigentlich Müttern?

Eine Mutter, die zu Hause vielleicht auch noch mehrere Kinder aufziehen möchte, muss uns genauso wertvoll sein wie etwa eine Chemikerin, die den Spagat zwischen Mutterschaft und Beruf wagt. Das Gerede von Kindern als „Mutterfalle“ ist genauso schlecht wie das von der „Rabenmutter“. Man spielt doch Männer, die unterschiedliche Lebensentwürfe haben, auch nicht gegeneinander aus.

Die CSU will als Kompensation einen Betreuungsbonus für Daheim-Erziehende zahlen. Dient das der Vielfalt?

Mit Geld aus der Gießkanne kann man keine gute Erziehung gewährleisten. Es wäre besser, wenn man gezielte Angebote machen würde, um Defizite von Kindern auszugleichen. Gutscheine für bestimmte Betreuungs- oder Bildungsleistungen, wie Ministerin von der Leyen meint, wären besser.