Kafkaesker Ausnahmedauerzustand

MENSCHENRECHTE Im weltweiten „Krieg gegen den Terror“ ist Rechtsstaatlichkeit ein Fremdwort. Darüber diskutierten Experten auf einer Tagung in Berlin

US-Präsident Barack Obama ist von der größten Hoffnung zur größten Enttäuschung der weltweiten Menschenrechtsszene geworden

Fast zehn Jahre ist es her, seit die Anschläge vom 11. September 2001 die USA erschütterten. Die Folgen sind bekannt: Kriege, verschärfte Sicherheitsvorkehrungen, der „Krieg gegen den Terror“. Genau das aber, die Terminologie „Krieg“, hat auch dazu geführt, dass für die Verfolgung mutmaßlicher Terroristen oder ihrer Unterstützer seither völlig andere Regeln gelten als in der normalen Strafverfolgung. Der Rechtsstaat ist weitgehend ausgehebelt. Wer unter Verdacht gerät, ob zu Recht oder Unrecht, sieht sich eines großen Teils seiner Menschenrechte beraubt.

Auch die Obama-Regierung, angetreten mit dem Versprechen, die Folter abzuschaffen, das Gefängnis in Guantánamo zu schließen und die Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen, hat daran fast nichts geändert. Stattdessen setzt sie immer mehr ein weiteres Instrument ein: gezielte Tötungen von „Verdächtigen“ außerhalb jeglicher Rechtsgrundlage.

Es ist ein deprimierendes Szenario, das am Mittwoch in der Berliner Passionskirche am Marheineke-Platz aufgemacht wurde. Menschenrechtsexperten aus aller Welt waren auf Einladung von Amnesty International und dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) zusammengekommen. „Eigentlich ein Netzwerktreffen“, sagt ECCHR-Generalsekretär Wolfgang Kaleck, und so waren im Publikum mindestens genauso viele Anwälte, Organisationsvertreter und Experten zu treffen wie auf den vier Podien. Ihr gemeinsames Ziel: Rechtsstaatlichkeit wiederherstellen, illegale Praktiken des „Antiterrorkrieges“ bekämpfen und die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen vor Gericht bringen.

Im Schnellverfahren

Die Fälle, die in den verschiedenen Podien exemplarisch angesprochen wurden, sind alarmierend. Manfred Nowak, bis Oktober letzten Jahres UN-Sonderberichterstatter über Folter, erinnert an Mustafa Ait Idr. Der gebürtige Algerier, der die bosnische Staatsangehörigkeit angenommen hatte, wird einen Monat nach den Anschlägen vom 11. 9. im Oktober 2001 auf Geheiß der USA in Sarajevo festgenommen. Warum und unter welcher Anschuldigung, erfährt er nicht, aber im Schnellverfahren wird ihm die bosnische Staatsangehörigkeit entzogen.

Trotzdem greift in Bosnien der Rechtsstaat: Das oberste Gericht entscheidet, es gebe keine Indizien gegen ihn, die seine Verhaftung rechtfertigten, und ordnet die Freilassung an. Unmittelbar danach wird er gekidnappt und nach Guantánamo verschleppt, wo er sieben Jahre einsitzt. Erst 2008, nach dem Grundsatzurteil des Obersten US-Gerichts, das auch Guantánamo-Gefangenen ein Recht auf Haftprüfung zugesteht, kommt er frei.

Der Kanadier sudanesischer Abstammung Abousfian Abdelrazik besucht 2003 seine Eltern im Sudan. Dort wird er auf Geheiß des kanadischen Geheimdienstes festgenommen und wochenlang gefoltert, zum Teil im Beisein kanadischer Verhörspezialisten. Als ihm nichts nachgewiesen werden kann, kommt er 2004 wieder frei, kann aber den Sudan nicht verlassen, weil er inzwischen auf der No-Fly-Liste der USA steht. Obwohl die sudanesische Regierung ihn offiziell rehabilitiert, wird er im November 2005 wiederum festgenommen und erst im Juli 2006 wieder freigelassen. Inzwischen hat ihn auch der UN-Sicherheitsrat auf seine Terrorliste gesetzt – auf Anforderung der USA, die ihm vorwerfen, enge Kontakte zu al-Qaida zu unterhalten, ohne dafür auch nur den geringsten Beweis zu erbringen. Menschen, die auf dieser weltweit bindenden Liste stehen, können kein Bankkonto eröffnen, keine Zahlungen tätigen oder empfangen, kein Flugzeug besteigen, keine Arbeit annehmen. Jahrelang kämpft Abdelrazik um die Möglichkeit, nach Kanada zurückzureisen – erst 2009, sechs Jahre nach seiner Verhaftung im Sudan, kann Abdelrazik nach Kanada zurückreisen, nachdem sein Fall bekannt geworden war und es innerhalb Kanadas viel, auch prominente Unterstützung gab. Auf der Terrorliste der Vereinten Nationen steht er bis heute.

Mit der Terrorliste ist das Versagen von Rechtsstaat in den Vereinten Nationen angekommen. In Berlin zieht der kanadische Jurist Amir Attaran, Professor an der Universität Ottawa, daraus den Schluss: „Die Vereinten Nationen gehören heute zu den größten Menschenrechtsverletzern der Welt.“ Zuständig für die Liste ist ein Sicherheitsrat-Unterausschuss, dem der deutsche UN-Botschafter Peter Wittig vorsteht. Wittig hat im April dieses Jahres veröffentlicht: „Obwohl der Sicherheitsrat klargestellt hat, dass für die Verhängung von Sanktionen keine Beweise im strafrechtlichen Sinne erbracht werden müssen, wird doch in den meisten Fällen irgendetwas gegen die betroffenen Personen vorliegen.“ Besser kann man Willkür nicht formulieren.

Die Menschenrechtler in der Passionskirchen kennen solche Fälle alle. Dabei wird schnell klar, dass es vor allem das Denkgebäude der „Preemptive Security“ ist, der vorbeugenden Maßnahmen gegen einzelne Personen, das sich mit der Idee von Rechtsstaatlichkeit nicht in Einklang bringen lässt. So plädieren die Experten für ein strikt strafrechtliches Vorgehen. Die Prämisse, die USA befänden sich in einem weltweiten Krieg und könnten damit auch fernab jeglichen Schlachtfelds mutmaßliche feindliche Kämpfer nach Gutdünken einfach umbringen, akzeptiert hier niemand. Das aber ist die gängige Praxis der Regierung Obama – der von der größten Hoffnung zur größten Enttäuschung der Menschenrechtsszene geworden ist. BERND PICKERT

■ Dokumente und Audio der Konferenz unter www.tenyears.eu