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Archiv-Artikel

Zahlenkrieg um die Verletzten

Gummigeschosse und GSG 9: Die Sicherheitshysterie nach den Ausschreitungen bei der Demo in Rostock beruht auf falschen Verletztenzahlen. Und zwar auf beiden Seiten

„Der Zahlenkrieg ist bizarr. Da wird jede Schramme gezählt“, kommentiert ein anonymer Polizeibeamter in Rostock

Vier Tage nach der Großdemonstration in Rostock hat die G-8-Sonderpolizeieinheit Kavala weit überhöhte Verletztenzahlen auf ihrer Seite eingeräumt. Nach statistisch üblichen Kriterien hätte die Zahl von 433 verletzten Polizisten deutlich niedriger ausfallen müssen, hieß es. Von den insgesamt 30 als schwer verletzt gemeldeten mussten nur zwei Polizeibeamte stationär im Krankenhaus behandelt werden. Gestern befand sich nur noch ein Beamter in der Klinik. Nach den gesetzlichen Kriterien für die Registrierung von Unfallopfern gilt aber nur als schwer verletzt, wer stationär behandelt wird.

Auch die von den Demonstranten bezifferte Zahl der Verletzten in ihren Reihen ist möglicherweise niedriger als bisher angenommen. Sanitätsdienste der Protestbewegung und Vertreter der Camp AG erklärten gegenüber der taz, ihre Zahlen beruhten nur auf eigenen Schätzungen. Eine unabhängige Statistik über Art und Ausmaß der Verletzungen von Rostock existiert nicht.

Die Debatte über Konsequenzen aus den Krawallen rückt damit in ein anderes Licht: Forderungen nach einer härteren Gangart der Polizei, gar nach Einsatz von Gummigeschossen oder der GSG 9 waren in den vergangenen Tagen stets mit den vermeintlich hohen Verletztenzahlen begründet worden. Sowohl Sprecher der Polizei als auch der Demoorganisatoren räumten ein: Die hohe Zahl der Verletzten sei auf Augenreizungen zurückzuführen – erlitten infolge von Tränen- und Reizgas. „Der Zahlenkrieg ist bizarr“, sagt selbstkritisch ein Beamter, „da wird jede Schramme gezählt.“

Die Leitstelle der Feuerwehr in Rostock erklärte gestern, sie sei gerne bereit, eine zentrale, unabhängige Verletztenstatistik nach gesetzlich üblichen Kategorien zu führen. Doch weder der polizeiliche Sanitätsdienst noch derjenige der Protestbewegung würden ihre selbst erhobenen Zahlen weitermelden. Die Leitstelle wurde am Samstag lediglich vom Deutschen Roten Kreuz und von der Johanniter-Unfallhilfe sowie von den eigenen Feuerwehrleuten mit Verletztenzahlen beliefert.

Insbesondere Art und Ausmaß der Verletzungen unter den Polizisten entzögen sich seiner Kenntnis, erklärte ein Sprecher der Feuerwehrleitstelle gegenüber der taz: „In der Regel lässt die Polizei ihre Beamten nicht durch DRK oder Johanniter oder durch die Feuerwehr behandeln, sondern durch ihre polizeieigenen Sanitäter.“ Damit entzieht sie sich jedoch auch der Kontrolle unabhängiger Beobachter.

Die Gesamtzahl der Verletzten wird nach Angaben eines Polizeisprechers der G-8-Sondereinheit Kavala allein vom Führungsstab des Polizeileiters per elektronische Umfrage bei den jeweiligen Abschnittsverantwortlichen erhoben. Dabei verzichtet die Polizei auf die beispielsweise in der Verkehrsunfallstatistik gängige Kategorisierung. Dort gilt jemand erst dann als schwer verletzt, wenn eine stationäre Behandlung erforderlich ist. „Dieser Definition sind wir nicht unterlegen“, so ein Polizeisprecher gegenüber der taz. In Rostock seien auch solche Beamte als Schwerverletzte eingestuft worden, deren Bänderdehnungen, Prellungen oder Schnittwunden lediglich ambulant behandelt worden seien. Warum die Polizei die gängige Definition nicht übernehme, sei „eine gute Frage“. Zu keinem Zeitpunkt hätten Beamte in Lebensgefahr geschwebt. Zu der Frage, wie viele Beamte beispielsweise durch ihr eigenes Tränengas verletzt wurden, macht die Polizei keine Angaben.

Die Protestbewegung spricht – je nach Organisation – von 200 verletzten Demonstranten (Rotjacken-Sanitäter), 530 (Camp AG) oder 1.000 (Streetmedics). Die Verletztenzahlen variierten deswegen so stark, weil sie lediglich auf Schätzungen beruhten, sagt Andreas Henner von der Camp AG. „Unsere Sanitäter machen keine Zählungen, sie führen intern Namenslisten, schmeißen sie dann aber weg, damit niemand an diese Daten kommt.“ Was gegen eine anonyme Strichliste spreche, kann keiner so genau sagen.

Die Leitstelle der Feuerwehr gibt an, dass ihr Rettungsdienst im Stadtgebiet von Rostock zwischen Samstagmorgen, sieben Uhr, und Sonntagmorgen, sieben Uhr, 133-mal zum Einsatz gerufen worden sei. Das entspricht einer Verdreifachung der sonst üblichen durchschnittlichen Tageseinsätze, erklärte die Feuerwehr. 85 dieser Einsätze hätten eine ambulante medizinische Versorgung nötig gemacht. Eine stationäre Behandlung sei in keinem Fall nötig gewesen. „Ein offener Knochenbruch war das Heftigste“, sagte der Pressesprecher der Leitstelle.

Die Bilanz des Sachschadens fällt ähnlich moderat aus. 50.000 Euro Schaden seien der Stadt entstanden durch demolierte Ampeln, Straßenpoller, Parkscheinautomaten, zerstörtes Straßenpflaster und eingeworfene Scheiben in drei Feuerwehrwagen, teilte die Feuerwehr mit.

HEIKE HAARHOFF