: Viel steht auf dem Spiel
Seit die Entscheidung, ob S 21 gebaut wird oder nicht, immer näher rückt, stellt sich die Frage, wohin sich der Bürgerprotest bewegt. Gedankensplitter als Anregung zu einem Weiterdenken in die Zukunft
von Josef-Otto Freudenreich, Meinrad Heck, Rainer Nübel und Susanne Stiefel
Undenkbare Unfehlbarkeit: Wie schön wäre es, ein unfehlbarer Mensch zu sein. Wie der Papst. Man wandert durchs Leben, weiß, was richtig und falsch ist, böse und gut, und trifft immer eine Entscheidung, die gut und richtig ist. Das würde Ordnung ins Leben bringen. Aber davor hat schon Winfried Kretschmann gewarnt, dem ob seiner Vergangenheit (Kirche und Kommunistischer Bund Westdeutschland) zumindest ein gewisses Urteilsvermögen bescheinigt werden kann. Mit der Wahrheit ist das so eine Sache, wie auch der Beitrag von Heinrich Steinfest in dieser Ausgabe nahelegt. Nun ist der grüne Ministerpräsident nicht die letzte Instanz der Deutungshoheit, wir können freilich annehmen, dass er seinem Volk damit etwas sagen wollte: Erlaubt euch manchmal einen Zweifel. Es ist, zugegeben, sehr verführerisch, nur noch wahrzunehmen, was der Gitterrost der eingeschränkten Kopfarbeit durchlässt. Aber es hilft nicht zu verstehen. Es hilft nur zu verhärten. Praktisch gewendet: es ist nicht per se falsch und niederträchtig, was die Polizei verlautbart, und es ist nicht von vornherein edel und gut, was die Parkschützer verkünden. Die Frage nach dem Warum wäre erhellender, weil sie Erkenntnis befördert und nicht das bestätigt, worüber schon immer – scheinbar – Klarheit herrschte. Die Motivlagen derer zu erforschen, die etwas sagen, ohne ihnen sofort finstere Absichten zu unterstellen, böte sich an, um Erklärungen zu finden. Bei so manchem Satz eines Befürworters von Stuttgart 21 zum Beispiel. Öffentliche Äußerungen daraufhin zu prüfen oder zumindest ein Fragezeichen dahinter zu setzen, das spräche für den offenen Blick. Auch bei Aussagen von Gegnern von Stuttgart 21. Der Tunnelblick öffnet keine Horizonte.
– Denkwürdige Volksversammlung: Die „Stuttgarter Republik“, die viel bewunderte. Was wird aus ihr? Krawall statt Kreativität, Militanz statt Friedfertigkeit? Nein, so weit ist es nicht. Aber was wird, wenn der Stresstest im Sinne Grubes ausgeht? Wenn die Volksabstimmung scheitert? Hat sich jemand Gedanken darüber gemacht, was das für die Stadt bedeutet? Die Polizei und der SPD-Innenminister wahrscheinlich ja, Kretschmann & Co, so darf angenommen werden, wohl auch. Die einen denken in Recht und Ordnung, die anderen in Kategorien des politischen Überlebens. Aber was denken die, die den Protest getragen haben und tragen? „Der Geischt sagt Nein“, schrieb einst die Zeit. Nur, das reicht jetzt nicht mehr. Ausgerechnet Gangolf Stocker, der alte Kämpe, hat ein Fenster aufgemacht. Sei's aus Verdruss über seine ehemaligen Weggenossen oder aus der Einsicht, dass sich die Welt auch nach S 21 weiterdreht, hat er die Volksversammlung ins Leben gerufen. Die Idee musste ein Altleninist haben, was ihrem Charme nichts nimmt. Stocker hat begriffen, dass sich die „Stuttgarter Republik“ keine Fesseln anlegen darf, die sie am Ende in das Korsett von Siegern und Verlierern einzwängt. Höchste Zeit, dafür Konzepte zu entwickeln. Die Kraft dazu ist da, sie darf nur nicht im Stuttgarter Grundwasser versickern.
– Pennäler-Gedanken: Kürzlich in der 5 a im Gymnasium am Bahnhofsviertel: „Du, der blöde Rüdiger hat eine Eins minus im Test“, verrät Winne einem Kumpel. „Aber sag das nicht weiter.“ Der Kumpel hängt ein Blatt am Schwarzen Brett auf: „Winne hat gesagt, der Rüdiger hat eine Eins minus im Test!“ Als Rüdiger das liest, lässt er einem seiner Kumpels ausrichten: „Ja, ich hab eine Eins minus. Und darüber freue ich mich ganz doll.“ Weil aber Winnes Kumpel als Erster gepetzt hat, steht der Winne ganz schön doof da. Jetzt hängt er ein Plakat am Schwarzen Brett auf: „Pah, ich weiß gar nicht, dass Rüdiger eine Eins minus hat. Ich weiß überhaupt nicht, wie der Test ausgefallen ist. Und Rüdiger kann es auch nicht wissen, denn der Lehrer hat den Test noch gar nicht fertig korrigiert. Rüdiger will nur prahlen und spielt Foul!“ Jetzt sind gleich zwei richtig sauer: Rüdiger und der Kumpel von Winne. Rüdiger lässt die Klasse wissen, dass der Winne sehr wohl Bescheid wisse über den Test, denn der habe seine Freunde immer hingeschickt oder sei sogar selbst dabei gewesen, als der Test geschrieben wurde. Dass das sogar im Tagebuch steht, ist für Winne ganz blöd. Und nun greift ihn auch noch sein Kumpel, der Petzer, der jetzt nicht mehr Winnes Kumpel ist, von links an: „Natürlich hat Winne zu mir gesagt, dass Rüdiger im Test eine Eins minus hat. Ich hab‘s sogar auf Band aufgenommen. Dass er jetzt so tut, als ob das nicht wahr sei, finde ich ganz arg böse und blöd!“ Da tuschelt‘s in der Klasse: „Der Winne hat wohl ziemlich Mist gebaut.“ Und in der vorderen Reihe strecken Pennäler, die Winne nicht mögen, weil er bei der letzten Wahl Klassensprecher wurde und nicht sie: „Der Winne hat gelogen, der Winne hat gelogen!“ Der ärgert sich grün und rot, wie die Sache läuft. Trotzig schnippt er mit den Fingern: „Der Test war viel zu leicht, babyleicht war der. Nur deshalb hat der Rüdiger eine Eins minus!“ Die 5 a beginnt heftig zu streiten. Das macht sie schon das ganze Schuljahr über. Die Lehrer ahnen für den 14. Juli schon das Schlimmste: Da geben sie den Test heraus. Winne und Rüdiger haben sie längst auseinander gesetzt.
– Denkblockaden: So viele Verwerfungen. Verfestigungen. Und harte Verkrustungen. Positionen werden mitunter zu Bollwerken verbaut. „Wer sich mit Stuttgart 21 befasst, muss sich gefälligst an die Fakten halten“, fordert ein Diskutant. Dann nennt er die „Fakten“ – es sind seine Argumente. Gewiss keine schlechten Argumente, aber eben Argumente. Wo Informationen und Meinungen als Kontrast verschwimmen, verliert die Sache an Kontur. Und wenn Positionen nur noch bestätigt werden sollen, verbaut sich der Blick auf das denkbar Andere. Und auf das mögliche Ganze. Diese Stadt ist schon lange nicht mehr ganz. Aus Denk-Gräben sind Stellungen geworden, hermetisch. Manchmal überkommt einen Schauder, fast Angst. Wenn ehemalige Mächtige den Einsatz von martialischen Machtmitteln gegen Demonstranten immer noch relativieren. Und wenn verhärtete Protestierer bei der Nachricht lachen, dass ein Polizist durch Faustschläge eine Gehirnerschütterung erlitten habe. Es wird Zeit, dass diese Verwerfungen, Verfestigungen und Verkrustungen zumindest wahrgenommen werden. Auf allen Seiten. Sonst erstarrt ein Aufbruch, der so viel Zukunft bedeuten kann, zum Bruch-Stück.
– Blockdenken: Schwarz-Weiß-Denken, ein fast schon digitaler Automatismus, richtig/falsch, gut/schlecht, Befürworter/Gegner: auch das gehört zum Konflikt um Stuttgart 21, auch das hat sich in den vergangenen Monaten in öffentlichen Äußerungen und zig Pressemitteilungen der beiden Seiten festgesetzt. Und in vielen Köpfen. Für die Zukunft dieser Stadt ist es immens wichtig, dass auch und besonders dieser Automatismus aufgebrochen wird. Medien haben die originäre Aufgabe, genau hinzusehen statt sich vorschnell festzulegen, Informationen akkurat zu recherchieren und zu belegen statt sie halbgar zu veröffentlichen, kritisierten Protagonisten die Möglichkeit zur Stellungnahme zu geben, statt sie unkonfrontiert anzugreifen. Mit zu den Konsequenzen aus Stuttgart 21 sollte gehören, dass sich die Medien intensiv darüber Gedanken machen, ob sie diese verbrieften Spielregeln des Journalismus immer befolgt haben. Den etablierten Lokalmedien wird dies von einem Großteil der Projektgegner abgesprochen, mehr noch: es steht der – bei Demos immer wieder lautstark formulierte – Vorwurf im Raum, sie hätten sich von politischen und wirtschaftlichen Pro-Stuttgart-21-Protagonisten leiten, beeinflussen, ja manipulieren lassen. Ein schwerer Vorwurf, der leicht und schnell erhoben werden kann – wenn man selbst dem Blockdenken, der Schwarz-Weiß-Zeichnung und dem digitalen Automatismus verfallen ist. Die Realität ist, wie so häufig, differenzierter: Um fundiert Kritik an einem Projekt und seinen Machern zu üben, bedarf es Fakten. Belegten Fakten. Belegt etwa durch interne aussagekräftige Unterlagen. Liegen die nicht vor, bleibt Kritik spekulativ – und nicht publizierbar. An solche Fakten heranzukommen ist der Ehrgeiz jedes Journalisten, der seinen Job so macht, wie es sich gehört. Sie finden sich auch in den etablierten Lokalmedien. Dass man sich in manchen medialen Chefetagen früh, zu früh in der Kommentierung auf eine Pro-Haltung fixiert hat, ist fragwürdig. Aber das ist nur eine Seite. Wenn führende Vertreter überregionaler Medien beifallheischend propagieren, die Stuttgarter Zeitungen hätten versagt, ist das genauso fragwürdig.
– Denk-Mal auf Augenhöhe: In der Süddeutschen Zeitung haben wir zum ersten Mal von diesem ominösen Papier gelesen. „Der Minister geht zu seinem Schreibtisch und holt ein … handgeschriebenes Schreiben“, so steht's im Interview mit Baden-Württembergs Verkehrsminister Winne Hermann, an dessen Stuhl schon heftig gesägt wird. Da waren die Herren SZ-Interviewer wohl genauso überrascht wie wir Leser: Dachten wir doch immer, dass man auf diesen Ebenen, so zwischen Ministerium und Deutscher Bahn, anders miteinander umgeht. Anders als wir das in der ersten Klasse gemacht haben, mit Zettelchen zuschieben oder so. Nur, dass heute gefaxt wird. Nun liegt uns das geheimnisvolle Papier (zu lesen auf www.kontext-wochenzeitung.de) vor, und wir sehen: Doch, genauso ist es. Nur sind wir nicht mehr im Kindergarten, und es geht auch nicht um Murmeln. Genauer gesagt geht es um 56 Millionen Mehrkosten bei einer Bauverzögerung von S 21. Und genau darüber wollte der Verkehrsminister nähere Informationen. Mit großer Unbeschwertheit („Hallo Herr Hermann“) macht sich DB-Technikvorstand Volker Kefer an die Berechnung, addiert mit flotter Feder mal 20 mit 30 und 6 zu 56 Milliönchen, ohne näher aufzuschlüsseln, wie es zu dieser Rechnung kommt. „Zusatzkosten Projektmanagement und Planung“, „später eintretende Verkehrserlöse“, „Kompensation für Erschwernisse“ – diese Stichworte müssen genügen. Nun gibt es bei Europas größtem Logistikunternehmen sicher Abteilungen, die eine saubere Auflistung vorlegen könnten. Womöglich würde sich unter den 230.000 DB-Mitarbeitern sogar eine Fachkraft finden, die das Ganze ordentlich abtippt. Schließlich geht es um Europas „bestgeplantes“ Bauprojekt. Und war bei der Schlichtung nicht auch mal von Transparenz und Fairplay die Rede? Von Augenhöhe gar?
– Gedankenlosigkeit: Seit Montag vergangener Woche hat sich die Spirale des Misstrauens, ja, der Paranoia ein ganzes Stück weiter gedreht. Künftig werden sich Demonstranten im Park oder sonst wo genau umsehen müssen, welcher Unbekannte welche Beule unter der Jacke hat, wer sich nach hinten an den Hosenbund greift oder einen im Knopf im Ohr trägt. Das könnten alles Zivile sein. So werden seit jener 79. Montagsdemo Polizisten in Jeans und Lederjacke genannt, wenn sie keine Uniform tragen. Jeder Unbekannte, der verdächtig zuckt, könnte also ab sofort ein solcher Ziviler sein. Und dann wären da noch harmlose Spaziergänger oder friedliche Zaungäste: Neugierig durch die Gitter auf ein paar Bagger blicken und dabei dem Zaun zu nahe kommen, das könnte ein geplanter und unmittelbar bevorstehender Gewaltakt sein. Neuerdings beurteilen die Schlagzeilen eine Montagsdemo nicht mehr nach ihrem Inhalt, sondern reduzieren sie auf Krawall oder nicht. Die Zivilen in der Protestbewegung sollten sich künftig also sehr genau überlegen, ob sie nicht irgendwelchen Zäunen zu nahe kommen, weil schon die Annäherung missverstanden werden könnte. Die beamteten Zivilen auf der anderen Seite müssen wohl oder über darüber nachdenken, zu ihrem eigenen Schutz vor Attacken einen weiteren Zivilen mitzunehmen, dem wiederum nichts anderes übrig bleiben wird, als sich unter den Schutz eines dritten Zivilen zu stellen … und so weiter und so weiter. Willkommen in Absurdistan 21.