: Abgeordnete im Kindergarten
Die armen Kleinen: Das Abgeordnetenhaus debattierte über mehr Schutz für Kinder und Jugendlichen. Doch weil den Parlamentariern Anlass und Inhalte fehlten, ersetzten sie diese einfach mit Floskeln und allzu Menschlichem
Das hatten die Kinder nicht verdient, diese armen, kleinen Dinger mit ihren Kulleraugen. Da traten gestern im Abgeordnetenhaus Parlamentarier und Senat an, etwas Fürchterliches zu tun: Sie hatten vereinbart, in der Aktuellen Stunde über Kinder zu sprechen, über Verwahrlosung und Misshandlung der Jungen und Jüngsten. Doch weil an dieser Stunde wenig aktuell war, füllten die Abgeordneten ihre Reden mit Floskeln trübster Sorte.
Verraten wir es gleich: Den ersten Preis gewann zweifellos die Vertreterin der CDU, Emine Demirbüken-Wegner. Sie vertrat die kontroverse These, uns gehöre mitnichten die Welt. „Wir haben sie von unseren Kindern nur geliehen.“ Wem diese Botschaft zu subtil war, dem war der Nachsatz gewidmet: „Kinder sind unsere Zukunft.“ Die folgenden Redner versuchten nach Kräften, dieses Maß zu unterbieten.
Dabei war der Anlass der Debatte klug gewählt. Am vergangenen Freitag war der von der UN eingeführte Weltkindertag; die Berichte über spektakuläre Fälle von Kinderverwahrlosung in Berlin häufen sich seit Monaten. Und nach monatelangem Hin und Her ging Anfang Mai die Berliner Kinderschutz-Telefonberatung in Betrieb. Doch das war es auch schon. Streitpunkte gab es gestern im Plenum kaum. Das ist nicht überraschend, hatte das Parlament doch vor genau einem Jahr bereits den Aufbau eines Netzwerks Kinderschutz beschlossen. Aber über irgendwas muss man ja reden, und was wäre konsensfähiger als eine Debatte über die lieben Kleinen?
Deshalb fand die jugend- und familienpolitische Sprecherin der SPD, Sandra Scheerer, die Entwicklung der Kinderschutz-Hotline „erfreulich“. Laut Parteifreund und Bildungssenator Jürgen Zöllner sind unter der Telefonnummer 61 00 66 bis zum vergangenen Mittwoch 159 Meldungen eingegangen. 129 Fälle hätten die Mitarbeiter an die Jugendämter weitergeleitet, fünfmal seien junge Menschen in Obhut genommen worden.
Ein wichtiges Detail dieses Erfolges erwähnte der Senator nicht. Statt vier Ansprechpartnern, für die vor einem Jahr Stellen bewilligt wurden, tun am 24-Stunden-Telefon nur zwei Dienst. Im Stellenpool der Verwaltung mit rund 5.000 bezahlten, aber unbeschäftigten Mitarbeitern hat sich niemand für die Arbeit gefunden.
Das trübte nicht die traute Gemeinsamkeit aller Parlamentarier, die über Fraktionsgrenzen hinweg stets Applaus spendeten, wenn das Wort „Kinderschutzhotline“ fiel. Über anderes war man sich weniger einig. Während die eingangs erwähnte Demirbüken-Wegner von einer „zunehmenden Tendenz zur Verwahrlosung“ unter Kindern und Jugendlichen sprach, befand Senator Zöllner: „Das kann man nicht mit Sicherheit sagen.“ Die Polizei gehe vielmehr von einer gewachsenen Sensibilität der Berlinerinnen und Berliner aus, die verdächtige Beobachtungen heute eher meldeten.
Für die Linkspartei verwehrte sich Margrit Barth gegen gestern unausgesprochene Vorwürfe, die Kürzung der sogenannten Hilfen zur Erziehung habe zu mehr Verwahrlosung geführt. 15.000-mal, assistierte Senator Zöllner, habe Berlin im Jahr 2005 Erziehungshilfen bewilligt, fast so viele wie 2004.
Auch Zöllner wollte gefühlig wirken. Es misslang. Die Arbeit der Sozialarbeiter habe sich binnen wenigen Jahren rasant verändert, befand er. Dieser Wandel müsse verkraftet werden. „Da sollten wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten.“MATTHIAS LOHRE