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Archiv-Artikel

Sexy Holocaust

„Shoah und Pin-Ups“ dokumentiert das Leben und Wirken des jüdischen Künstlers Boris Lurie (22.15 Uhr, Arte)

Zwei alte Männer sitzen in der Küche eines maroden Farmhauses und rauchen. Fragt der eine: „Gab es eigentlich auch Mädchen in den Camps?“ Sagt der zweite: Klar. Man habe aber keine Lust auf Sexualität, wenn der Magen leer sei, und im Getto und im KZ sei der Magen eben oft leer gewesen. Der da so unbefangen über Libido und Holocaust spricht, ist Boris Lurie, malender, schnippelnder, klebender Künstler und Mitbegründer der New Yorker No!Art-Bewegung. In seinen Bildern collagiert er seit den frühen Sechzigerjahren KZ-Aufnahmen mit Porno und Pin-ups.

Lurie war nie besonders erfolgreich, vielleicht wollte er das auch gar nicht sein. Der Überlebende, der den Massenmord aus der Triebperspektive beleuchtet, ist nur schwer in die Holocaust-Gedenkmaschinerie zu integrieren. Wie soll man mit so was umgehen, was kann man daraus lernen? Der Künstler macht es einem aber auch nicht einfach. Denn in seinen Darstellungen vermischt sich der sadistische Trieb der Täter mit der verzerrten, verstümmelten, fast abgetöteten Lust des Opfers. Moralische Lehren lassen sich aus seinen Werken nicht ziehen.

Wenn Lurie in der Dokumentation „Shoah und Pin-Ups“ über seinen künstlerischen Erweckungsmoment spricht, klingt das, als habe da jemand zu einem souveränen Ausdruck der eigenen Sexualität gefunden. „Wie konnte ich alle Mädchen der Welt in einem Bild malen?“, habe er sich irgendwann in den Fünfzigern gefragt. Dann riss er angeblich die Pin-ups, welche die Wände seines Apartments schmückten, ab und klebte sie auf die Leinwand. Und, wie Lurie lustvoll hinzufügt: „Um sie herum ergoss sich die Farbe.“ Auch eine Art, sich aus der Opferrolle zu befreien.

Es ist vor allem das gesprochene Wort, auf das Regisseurin Reinhild Dettmer-Finke in ihrem Porträt setzt. Der 80-Jährige redet hoch reflexiv über die eigene Kunst, verweigert sich jedoch jedem Legitimierungsdruck. Oft folgt die Kamera ihm aber auch nur dabei, wie er durch seine Wohnung und sein Atelier im East Village schlurft. Die Räumlichkeiten erinnern ein bisschen an seine provozierend undekorativen Kunstwerke; sie sind voll gestellt mit Dokumenten des Holocaust, Gerümpel und Porno-Bildchen, von der Decke bröckelt der Putz.

Auf museale Ehrungen kann Lurie gut verzichten. Gerne mokiert er sich über die Veteranen der Pop-Art, die dank ihrer Kunst zu Millionären geworden sind: „Damals, in den Sechzigern, standen wir in Konkurrenz. Und die Pop-Art, das war eine mächtige und chauvinistische Gesellschaft!“ Lurie indes war nie besonders daran interessiert, sich auf dem Markt und in der Gesellschaft zu positionieren. Dafür hat er, auch davon erzählt er offen, mit Aktiengeschäften ein bisschen Geld gemacht. So hält man sich frei von den Manipulationen des Kunstgewerbes.

Dass seinem Schaffen heute wieder ein bisschen mehr Aufmerksamkeit eingeräumt wird, hat auch mit den jüngsten Auswüchsen von Politik und Gewalt zu tun: den Misshandlungen irakischer Gefangener in Abu Ghraib. Lurie spricht darüber so trocken wie über die eigenen Holocaust-Erfahrungen, warum also lange drum herumreden: „Folter bietet nun mal sexuellen Genuss.“ CHRISTIAN BUSS