: Kopftuch auf dem Campus
Post aus New York: In den USA fällt die Integration von Muslimen leichter als in Europa. Die amerikanische Identität beruht auf gesellschaftlicher Teilhabe. Nicht auf Assimilation
Marcia Pally ist Professorin an der New York University. Sie hat zahlreiche Bücher geschrieben. Auf Deutsch erschien zuletzt ihr Werk „Lob der Kritik. Warum die Demokratie nicht auf ihren Kern verzichten darf“ beim Berlin Verlag.
Das Pew Forum ist ein unabhängiges Forschungsinstitut, dessen Untersuchungen dem Selbstwertgefühl der Amerikaner in der Regel nicht gut bekommen. Doch soeben hat es uns eine Rose zugeworfen. Wenn es um Armut, das Bildungsniveau und die Häftlingsquote in unseren Gefängnissen geht, um Gesundheit, Umweltschutz oder internationale Hilfsleistungen, schneiden wir im Vergleich zu anderen Industrienationen meist miserabel ab. Bestens stehen wir hingegen im Hinblick auf unseren Umgang mit Einwanderern da, zumindest im Vergleich mit dem „alten Europa“. Das gilt sogar für muslimische Einwanderer, für gläubige Muslime und verschleierte Muslimas. Und das noch nach 9/11: Gott segne Amerika!
Das Pew Forum stellt fest, die europäischen Muslime seien „ghettoisiert“ und „deutlich schlechter gestellt als die Mehrheitsbevölkerung, wirtschaftlich an den Rand gedrängt und sozial isoliert“. Unsere Muslime dagegen sagen, „dass sie sich in ihren Gemeinden ausgezeichnet oder gut aufgehoben fühlen“. 71 Prozent sagen, die Menschen könnten in den USA Erfolg haben, wenn sie sich entsprechend bemühten. Ihr Einkommen und ihre Bildungsabschlüsse liegen im nationalen Durschnitt. Die meisten meinen, dass Muslime die amerikanischen Sitten annehmen sollten, wenn sie in die USA kommen, und 63 Prozent sagen, sie könnten keinen Gegensatz zwischen Frömmigkeit und dem Leben in einer modernen Gesellschaft erkennen. Vielleicht ist es deshalb nur folgerichtig, wenn 63 Prozent ein „sehr ungünstiges“ Bild von al-Qaida haben; wenn 85 Prozent Selbstmordattentate selten oder niemals für gerechtfertigt halten und nur ein Prozent meint, dass Gewalt zur Verteidigung des Islams „oft“ erlaubt sei.
„Daran zeigt sich“, so Amaney Jamal, der die Studie beratend begleitet hat, „die gelungene sozioökonomische Assimilation der muslimisch-amerikanischen Bevölkerung“. Das ist gut gemeint von Jamal. Aber es ist nicht die „Assimilation“, die erfolgreich war. „Assimilation“ heißt Auflösung in der Mehrheitsgesellschaft. Das tun die muslimischen Amerikaner aber nicht, denn sie bleiben gläubige Muslime. Gleichzeitig empfinden sie, wie 63 Prozent von sich sagen, keinen Widerspruch zwischen der Beibehaltung ihrer religiösen Praktiken und dem Leben in der Moderne. Das heißt, sie nehmen teil am wirtschaftlichen, politischen, schulischen und sozialen Leben der USA, während sie gleichzeitig ihren Glauben ausüben.
Man könnte sagen, dass dies auf einem Prozess der Selbstselektion basiert: Schließlich kommen nur die Muslime hierher, die sich den Herausforderungen des amerikanischen Lebens stellen, das kaum durch Sozialfürsorge abgefedert wird. Folgt man dieser Lesart, dann kommen Europas Einwanderer in erster Linie der Sozialleistungen wegen ins Land und scheren sich nicht um Teilhabe am wirtschaftlichen und politischen Leben. Das erklärt aber nicht, warum Amerikas muslimische Immigranten an ihrer Religion festhalten. Da sie nach US-Stil Erfolg haben wollen, müssten sie sich doch eigentlich schnell „assimilieren“.
Was es ihnen erlaubt, ohne Assimilation am öffentlichen Leben teilzuhaben, ist dessen „pluralistische“ – wohlgemerkt, nicht säkulare – Sphäre. Denn säkular bedeutet „ohne Religion“, pluralistisch dagegen „mit vielen“. Wir haben es in den USA schon mit so vielen Religionsgemeinschaften zu tun gehabt, dass eine Gruppe mehr nur eine Gruppe mehr ist: keine große Sache.
Der amerikanische Pluralismus ist nicht aus reiner Tugend, sondern aus der Notwendigkeit heraus geboren: Wir mussten so viele Einwanderer wie möglich anziehen, die bereit waren, die Mühsal der Besiedlung des Landes und später der Industrialisierung auf sich zu nehmen. Diese zufällige Großzügigkeit führte zu einer pluralistischen Übereinkunft: Immigranten hatten zum ökonomischen und politischen Erfolg beizutragen. Dafür durften sie nicht nur ihren eigenen Glauben beibehalten, sondern auch ihre Sitten und Gebräuche als Gemeinschaft. Natürlich gab es Vorurteile; aber mit wachsender Partizipation verloren diese in der Regel an Bedeutung.
Was Amerika geblieben ist, ist die „Vertrautheit mit Differenz“. Da Amerikaner an viele Arten von unterschiedlichen Menschen gewöhnt sind, besitzen sie Übung darin, jene Differenzen, die dem Land schaden könnten, von den unproblematischen – und das sind die meisten – zu unterscheiden. Zumindest neigen sie nicht zu Panik. Selbst nach 9/11 gab es nur wenige Übergriffe gegen Muslime. Die Amerikaner sind sich sogar sicher, dass Leute, wenn sie erst einmal teilhaben, nicht mehr das Bedürfnis haben, ihre Differenz trotzig und rebellisch zu betonen. Wogegen sollten sie auch rebellieren, wenn sie teilhaben? Das ist der amerikanische Deal: Identität erfordert keine Konformität.
Die Unterscheidung zwischen Assimilation/Partizipation und Säkularismus/Pluralismus ist für die USA, wo sie faktisch – wenn auch unzulänglich – existiert, ebenso wesentlich wie für Europa, wo in vielen Ländern nach wie vor eine größere Konfusion herrscht. Der Druck, der auf die europäischen Immigranten ausgeübt wird, ist dabei spiegelverkehrt zu dem Druck, der auf den amerikanischen Migranten lastet. In den USA besteht dieser Druck darin, sich in die sozioökonomische, schulische und politische Sphäre einzubringen, deren relative Durchlässigkeit das auch ermöglicht; religiösen und ethnischen Eigenarten begegnen wir nach dem Motto „leben und leben lassen“.
Wenn wir dem Pew Forum und Europas eigener Presse trauen können, macht Europa sich dagegen viel mehr Gedanken über Sitten und Gebräuche seiner Einwanderer; die ökonomischen, schulischen und politischen Strukturen dagegen weisen eine sehr viel geringere Durchlässigkeit auf. Der geringen Partizipation der Einwanderer stehen auf Seiten der Aufnahmeländer ein geringeres Maß an „Vertrautheit mit Differenz“ und mehr Ressentiments gegenüber Zuwanderern gegenüber. Das wiederum kann zu einer aggressiven Betonung der Differenz in einer Gesellschaft führen, die schlechter in der Lage ist, diese anzunehmen – wie man an der Aufregung um das Kopftuch sehen kann.
Das ist, wie die New York Times 1945 die zwischen den USA und der UdSSR herrschende Paranoia nannte, ein „Teufelskreis“. Niemand in Europa möchte einen neuen Kalten Krieg im Inneren. Allerdings war ich schockiert, als ich kürzlich von mehreren Deutschen gefragt wurde, ob ich von muslimischen Studentinnen verlangen würde, dass sie in meinen Universitätsseminaren das Kopftuch ablegen. Natürlich nicht – genauso wenig, wie ich von ihnen verlangen würde, ihre Unterwäsche abzulegen.
Übrigens: Die beiden Muslimas in meinem Frühjahrsseminar gerieten nur mit einem säkularen Ägypter und mit keinem einzigen meiner amerikanischen Studenten in heftigen Streit über Fragen der Religion. Zudem gehörten sie zu den Besten ihrer Klasse. MARCIA PALLY
Aus dem Amerikanischen von Rosemarie Nünning