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Archiv-Artikel

Aus Farbe gebaut

KOSTÜMFILM Regisseur Mike Leigh verneigt sich in „Mr. Turner – Meister des Lichts“ vor dem britischen Landschaftsmaler William Turner

Mehr Kostümfilm geht eigentlich nicht: Holland, im Vordergrund der Deich, im Hintergrund die Windmühle, zwei Frauen mit den berühmten weißen Hauben auf dem Kopf und großen Weidenkörben am Arm, kommen langsam den Deich entlang. Gehen sie dann fröhlich schnatternd aus dem Bild, schwenkt die Kamera über den Kanal hinweg auf die gegenüberliegende Deichkrone. Dort zeichnet sich im Gegenlicht die Silhouette eines kleinen dicklichen Mannes ab, der ganz offensichtlich damit beschäftigt ist, die vor ihm liegende Landschaft in seinem Skizzenbuch festzuhalten.

Wir sehen „Mr. Turner“, den „Meister des Lichts“, wie der deutsche Verleih den Titel von Mike Leighs Spielfilm über den britischen Landschaftsmaler Joseph Mallord William Turner (1775–1851) signifikanterweise ergänzt hat. Überflüssigerweise, schließlich sind Turners fast schon ungegenständliche, in intensiven Erdfarben, Ocker- und Gelbtönen glühende Landschaften längst allgemein bekannt. Dann aber doch auch hilfreicherweise, denn zunächst wird der Maler als Meister exzentrischen bis ausgesprochen schlechten Benehmens vorgestellt. Den begnadeten Künstler, der experimentell arbeitet und schon ins rein Malerische vorstößt, zeigt das Biopic eher beiläufig, allerdings ziemlich stringent über den Einsatz der Kamera.

Konsequenterweise wurde beim diesjährigen Filmfestival in Cannes, wo „Mr. Turner“ Premiere hatte, nicht nur Timothy Spall für seinen Turner als bester Hauptdarsteller, sondern auch Dick Pope für seine Kameraarbeit ausgezeichnet. In auffällig kurzen Einstellungen sind die Themse und das umgebende Land in bedrückendem Licht zu sehen, so wie sie wohl Turner sah. Und in auffällig langen Einstellungen sehen wir ihn dann wieder und wieder vor Publikum malen, heftiges Spucken auf die Leinwand inbegriffen.

Wir begleiten den Maler die letzten 25 Jahre seines Lebens. Längst ist er arriviert, Mitglied der Royal Academy, bei deren Zusammenkünften er einigermaßen großspurig auftritt, vor allem in Gegenwart seines großen Zeitgenossen John Constable, wie er ein Vertreter der romantischen Landschaftsmalerei. Turner trägt im wahrsten Sinne des Wortes die Nase hoch, jedenfalls Timothy Spall tut das, und er lässt dazu seine Unterlippe gewaltig hängen, um seiner Figur die denkbar ungünstigste Physiognomie zu geben.

Überhaupt sind die Menschen in diesem Film sehr hässlich, schmutzig und ungelenk. Sie nuscheln, und vor allem Mr. Turner grunzt mehr, als er spricht. Die ihm ergebene Haushälterin Hannah Danby, die er hin und wieder sexuell missbraucht, hat – wenig verwunderlich – die Krätze. Man muss das wohl dem Kostüm und nicht dem Charakter zuschlagen, hat der Aspekt des Missgestalteten, Abstoßenden und Ekligen doch keinerlei narrative oder dramaturgische Folgen.

Mehr Kostümfilm geht also kaum – und doch ist „Mr. Turner“ mehr als das. Es ist das Tempo des Films, das stimmt und zweieinhalb Stunden nicht lang erscheinen lässt. Dass die Holländerinnen zu Beginn des Films so lange brauchen, bis sie den Deich entlanggegangen sind, gibt dem Kostümfilm den langen Atem des Epos, in dem der Alltag mit seinen dummen, komischen und schönen Seiten durchaus seinen angemessenen Raum erhält. Wie auch die kleinen, kurzen Szenen, die viel erzählen, wenn nicht über Turner direkt, so doch über die Zeit und die Gesellschaft, in der er lebt und sich beispielsweise auf den steifen Abendunterhaltungen seiner adligen Sammler quält.

Immerhin kann er es sich leisten, seinem Freund und Gönner, dem berühmten Kunstkritiker John Ruskin, zu widersprechen, als dieser Claude Lorrains Malerei als unwahrhaft kritisiert. Sein Ruhm und sein Geld machen ihn unabhängig, auch gegen die Kritik an seinen späten Bildern und das Unverständnis, auf das er mit ihrer aufgelösten, ganz aus Farbe gebauten Struktur stieß. Dank auch seines Vaters konnte er sich wohl von Anfang an von Verantwortung freihalten und er bleibt der arbeitsame Künstler und sonderbare Junggeselle.

BRIGITTE WERNEBURG

■ „Mr. Turner – Meister des Lichts“. Regie: Mike Leigh. Mit Timothy Spall, Dorothy Atkinson u. a. Großbritannien 2014, 150 Min.