: Riot-Pornografie
Der G-8-Gipfel und die Bilderproduktion – drei Fragen zur Wahrnehmung der Ereignisse in Heiligendamm
Was wäre die Linke? Nach einer Definition des Philosophen Gilles Deleuze keine Frage der Moral, sondern eine Frage der Perzeption: eine bestimmte Form der Wahrnehmung, die am Horizont beginnt, vom Horizont ausgeht, der die Ferne näher liegt als die Nachbarschaft, und noch die Nachbarschaft näher als die eigenen vier Wände. Eine linke Zeitung wäre dann eine, die in den letzten zehn Tagen, nur zum Beispiel, Bilder aus Delhi gezeigt hätte, wo bei Straßenschlachten mit der Polizei mehr als 25 Menschen ums Leben gekommen sind, oder aus Henan, wo die Polizei einen Studentenaufstand niedergeschlagen hat. Nicht um einer kitschigen Vorstellung von internationaler Solidarität Genüge zu tun, sondern weil anders als von Indien oder China aus die Welt sich nicht betrachten lässt. Natürlich gibt es keine solchen linken Medien, und deshalb sehen wir Bilder aus Rostock und Heiligendamm.
Auf den Bildern aus Rostock und Heiligendamm und bei ihrer Herstellung ist sich jeder selbst der Nächste. 100 Bilder eines einzelnen brennenden Autos, ausnahmslos von fern bei minimaler Tiefenschärfe dicht herangezoomt, ergeben die Schlagzeile des Abends: „Autonome verwüsten Rostock“. Die Totale wird nicht gezeigt, denn dann wären nur „Dreharbeiten in Rostock“ zu sehen. Noch in der Nacht melden sich 100 Polizisten verletzt. Die Bild-Zeitung würde lieber das Bild des toten Polizisten, den sie am 2. Juni 1967 erfunden hat, nachreichen können, am 40. Jahrestag, aber dieses Bild gibt es auch nicht. Am nächsten Morgen steht 100-mal derselbe Rostocker Bürger vor den eigens für den Fototermin zusammengekehrten „Scherben seiner Existenz“. Auch das ist kein moralisches Problem, sondern das Problem einer Wahrnehmung, die bei sich selbst beginnt.
Was ist „Riot Porn“? Ein Begriff, der Produzenten und Betrachter der Bilder von der G 8 aufklären könnte über ihr Verhältnis zu diesen Bildern und über das Verhältnis zwischen Produzenten und Betrachtern, das diese Bilder etablieren. Für pornografische Bilder gelten keine ästhetischen Kriterien; sie sind, ausschließlich, eine Frage der Effizienz, abhängig von ihrer Zielgruppe. Es gibt Softcore, Wald- und Wiesenmotive, Mainstream, den Riot von Rostock und Hardcore, die Seeschlacht vor Heiligendamm. Was die jeweiligen Darsteller über die Grenzen dieser Genres hinweg verbindet, außer der Verständigung auf ein gemeinsames Skript, in dem die Gewalt, die vom Staat ausgeht, am Ende immer gewinnt, ist der unbedingte Wille, das eigene Bild gegen jedes andere durchzusetzen. Und was wäre einfacher als die Durchsetzung eines pornografischen Bildes, also einer Abbildung von Personen, in deren Haut die Betrachter, zumindest insgeheim, gerne steckten, gegen das Bild eines Toten in Delhi, das ohnehin niemand aufgenommen hat. Was kein Fall von Zensur ist, sondern ein Fall von Wahrnehmung.
Das vielleicht einzige Bild, das die Linke von der G 8 gemacht hat, ist eine Montage mit dem Titel „Les coquelicots de Heiligendamm“, im Internet leicht zu finden, auf der, im Unterschied zu allen anderen Bildern aus Rostock und Heiligendamm, Tote zu sehen sind. Nicht 25, aber immerhin vier, gestorben unter unbekannten Umständen im frühen 20. Jahrhundert (selbst das lässt sich nur schätzen), gemalt von Claude Monet, an einem Sommertag, an dem sie noch am Leben waren. Als Tote haben sie zwar kein Recht, aber vielleicht doch einen legitimen Anspruch auf Abbildung, zumindest im Gegensatz zu Grönemeyer oder Deppendorf. Die Form der Wahrnehmung, die die Linke wäre, beginnt nicht mit der Gegenwart, sondern mit der übrigen Zeit und kann unter dem Regime der Tagesaktualität, der Herrschaft eines arroganten Blicks auf die Welt, der stets das aktuelle Elend oder Glück dem vergangenen oder zukünftigen vorzieht, nichts ausrichten. Wozu auch?
Was ist das Spektakel? Laut Guy Debord ein durch autonom gewordene Bilder vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen. Die Quellen von Debords Spektakelbegriff sind Hegel, Marx und Lukács, seine Mündungen sind, leider, die medienökologischen Gemeinplätze von 2007. Und die Sehnsucht nach gesellschaftlichen Verhältnissen, die nicht durch Bilder vermittelt wären, ist eine der reaktionärsten Grundhaltungen der Gegenwart. Anders gesagt: Das gravierendste Problem einer Gesellschaft von Riot Porn Junkies ist nicht die vermeintliche Verrohung der Sitten, sondern der geheime Wunsch nach wahrer Liebe.
Was stattdessen die Aufgabe wäre – nicht nur, um den Begriff des Spektakels vor seinen falschen Freunden zu retten, sondern vor allem, um selbst jener politischen Konfusion der Wahrnehmung zu entgehen, die sich nach zehn Tagen Rostock und Heiligendamm unweigerlich einstellt – wäre die Unterscheidung zwischen Bildern, in denen und durch die Vereinzelung reproduziert wird, und solchen, in denen und durch die Zusammenhänge entstehen. Dass Letztere in der Minderheit sind, ist kein quantitativer Unterschied, sondern ein qualitativer.
SEBASTIAN LÜTGERT