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Archiv-Artikel

Vincent, Antoine, Max und die anderen

BOURGEOISIE „Kleine wahre Lügen“ von Guillaume Canet ist ein großes zeitgenössisches Gesellschaftsdrama, das im vergangenen Jahr mit über fünf Millionen Zuschauern der erfolgreichste französische Film war

In den 70er Jahren waren solche weltgewandten Filme über weltgewandte Menschen in Frankreich sehr beliebt

VON WILFRIED HIPPEN

In den 70er Jahren waren solche Filme in Frankreich sehr beliebt. Regisseure wie Claude Sautet produzierten sie regelmäßig. In allen schien Yves Montand mitgespielt zu haben und in den besseren Romy Schneider. Es waren weltgewandte Filme über weltgewandte Menschen und sie spiegelten das zwiespältige Verhältnis der Franzosen zu ihrer Bourgeoisie (zugleich ein Schimpfwort und das angestrebte Ideal). Erzählt wurde in einer unterhaltsamen Mischung aus Komödie und tragischen Elementen von einer Gruppe von gutbürgerlichen Menschen, ihren Liebschaften, Schwächen und Verfehlungen. Der immense Erfolg von „Les petits mouchoirs“ (so der Originaltitel) an den französischen Kinokassen ist ein Beleg dafür, dass immer noch (oder schon wieder) ein großes Bedürfnis nach dieser Art von bürgerlicher Mythenbildung besteht.

„Kleine wahre Lügen“ beginnt mit einer von diesen minutenlangen ersten Einstellungen ohne Schnitt, die seit „Touch of Evil“ von Orson Welles den sportlichen Ehrgeiz von vielen Regisseuren anstacheln. Doch hier ergibt es ausnahmsweise auch dramaturgisch Sinn, wenn wir dem aufgekratzten Ludo nach einer durchzechten Nacht aus einer Bar in das Morgengrauen der Pariser Straßen folgen, den offensichtlich Angetrunkenen auf seiner Fahrt auf dem Motorroller begleiten, bis... dann etwas passiert, das unmöglich mit der wackeligen Handkamera aufgenommen worden sein kann. Aber weil er ohne sichtbaren Schnitt präsentiert wird, zählt dieser Spezial-Effekt zu den effektivsten der letzten (mit digitalen Tricks vollgestopften) Kinojahre. Nach diesem Schock (nur ein Spielverderber würde ihn noch genauer beschreiben) finden sich Ludos engste Freunde an seinem Bett in einer Intensivstation. Von ihnen erzählt Guillaume Canet in den nächsten zweieinhalb Stunden, denn statt am Bett ihres todkranken Freundes zu wachen, fahren Antoine, Vincent, Eric, Max und Marie lieber auf Urlaub ans Meer. Doch den ganzen Film über lauert Ludo als ihr personifizierter Memento mori im Hintergrund.

Die fünf PariserInnen sind wohlsituiert – Max ist so erfolgreich, dass er sich ein Anwesen an der Atlantikküste leisten kann, und hierher lädt er seine Freunde für ein paar Sommerwochen ein. Jeder von ihnen hat eine ausgeprägte Persönlichkeit und Probleme, und so kann Canet zwischen den einzelnen Figuren und Erzählsträngen umher springen, sodass einem die Zeit nie mit einem der kleinen Dramen zu lang wird. Max ist ein ruheloser Workaholic, den ein zu spätes Frühstück oder ein paar Marder im Gebälk zur Weißglut treiben. Er dreht völlig durch, als sein guter Kumpel ihm gesteht, in ihn verliebt zu sein. Antoine ist völlig ichbezogen und hat nichts anderes im Kopf als seine gerade zu Ende gegangene Beziehung. Eric ist dagegen hinter jedem Rock her und riskiert so seine wahre Liebe. Marie ist sexsüchtig und kann Nähe zu anderen Menschen kaum ertragen.

Die Bäumchen wechsle dich-Dramaturgie des Films ist aus jeder Soap Opera bekannt, aber auch bei Kino ist ja nicht das „was“, sondern das „wie“ entscheidend und Canet mischt hier sehr gekonnt zwischen komischen und besinnlichen Momenten. Das geht von Slapstickeinlagen wie einem Anruf per Handy, durch den ein Boot über den Strand in ein Haus kracht bis zu Gesprächen am Frühstückstisch, bei denen ein im Zorn gesprochener Satz die ganze schöne Fassade zu Einsturz bringt.

Mit Francois Cluzet, Marion Cotillard, Benoit Magimel, Gilles Lellouche, Laurent Lafitte und Jean Dujardin als dem sehr präsent abwesenden Ludo hat Canet ein Ensemble aus der Oberliga der französischen Filmschauspieler versammelt und sie spielen durchgehend inspiriert, mit Witz und Gefühl. Doch diese Menschen sind letztlich erschreckend oberflächlich, bei ihnen reicht es eben nur zu „kleinen wahren Lügen“. Und so wird man ihrer im letzten Akt überdrüssig und fast würde man dies dem Regisseur mit seiner Überlänge zum Vorwurf machen, wenn er nicht so übertreiben würde, und alle Protagonisten am Ende nicht noch große Monologe halten würden, die allesamt so falsch klingen, dass dies den Filmemachern unmöglich so durchgerutscht sein kann. Nein, wenn wir endgültig genug von diesen Leuten haben, ist dies genau die erwünschte Reaktion. Canet traut sich wirklich etwas, wenn er diesen gehobenen Unterhaltungsfilm dann mit einem radikalen Anti-Happy-End ausklingen lässt.