Was hier passiert, ist illegal

Seit Herbst letzten Jahres gilt in Nicaragua eines der härtesten Abtreibungsrechte weltweit. Selbst wenn die Mutter vergewaltigt wurde, das Ungeborene schwerste Behinderungen aufweist oder das Leben der Frau gefährdet ist, bleibt der Abbruch verboten. Frauen, die dennoch abtreiben, müssen mit mehrjährigen Gefängnisstrafen rechnen, ebenso Ärzte, die Abbrüche vornehmen.

Bis im Oktober die Gesetzesnovelle verabschiedet wurde, galt 113 Jahre lang ein liberales Recht. In der Hitze des Wahlkampfs aber wurden alle bis dahin geltenden Überzeugungen über Bord geworfen, selbst die Fraktion der Sandinistischen Befreiungsbewegung (FSLN) unter der Führung des jetzigen Präsidenten Daniel Ortega stimmte zu. Das Gesetz wurde auf Druck der katholischen Kirche verabschiedet, die mit einem „Marsch für das Leben“ Massen mobilisiert hatte.

Seither laufen Frauen- und Menschenrechtsorganisationen sowie Ärzteverbände Sturm gegen das Verbot. Sie beklagen die Verletzung von internationalen Menschenrechtsabkommen und fürchten einen Anstieg der Müttersterblichkeit, die laut Nicaraguas Millenniums-Entwicklungszielen bis 2015 auf 25 Prozent des Niveaus von 1990 sinken soll. Das wird nun als noch unwahrscheinlicher angesehen. Heute läuft die Frist ab, zu der der Oberste Gerichtshof über die Klage von FrauenrechtlerInnen entscheiden müsste. SEB

AUS MANAGUA SEBASTIAN ERB

María Mora Valle hält ihre Tränen nur mühsam zurück. „Sterben lassen“, presst sie heraus, „sie haben sie einfach sterben lassen. Wegen diesem neuen Gesetz.“ Gestorben ist ihre Tochter Francis an einer Schwangerschaftssepsis. Niemand im Krankenhaus wollte der 22-jährigen Schwangeren helfen. Man wartete, bis sie tot war.

María Mora Valle, die Mutter der Verstorbenen, sitzt auf einem blauen Plastikstuhl neben dem Fernseher. Hinter einem Vorhang liegt der zweite Raum, fünf Betten, ein Gasherd. Neun Personen wohnen in dem kleinen Haus aus unverputzten Zementquadern und Wellblechdach, gelegen in Tipitapa, eine halbe Busstunde von Managua entfernt, der nicaraguanischen Hauptstadt. Die rundliche 42-Jährige redet leise, langsam, sie klingt müde. Wilmer Bermúdez sitzt neben ihr, der Schwiegersohn hört zu. Sehr schlank ist er und sieht deutlich jünger aus als die 27 Jahre, die er alt ist. Er sagt nur etwas, wenn er angesprochen wird, sucht nach den richtigen Worten, findet sie nicht, bricht mitten im Satz ab.

Er holt ein Foto. Francis schaut verlegen in die Kamera, sie trägt dunkle Hose und blaues Top. „Das wurde vor einem Jahr aufgenommen“, sagt Wilmer Bermúdez, seine Stimme zittert. Acht Jahre waren die beiden ein Paar, als sie sich kennen lernten, sie war 14, er 19. Zwei Jahre später kam ihr erstes Kind zur Welt, zwei weitere folgten. Es war nicht leicht, sie waren arm, aber sie waren einigermaßen zufrieden. Wohnten bei ihrer Mutter im Haus, gingen am Wochenende zusammen aus. Er arbeitete tagsüber in einer Metallwerkstatt. Sie kümmerte sich um die Kinder und erledigte die Hausarbeit, schaute gern Telenovelas. Bis vor ein paar Wochen – da bekam sie Bauchschmerzen. Sie ging ins Gesundheitszentrum. Sie war schwanger, 19. Woche.

Francis hatte nichts bemerkt. Ihr Bauch war nicht dick geworden, ihre Tage bekam sie sowieso nicht, weil sie den jüngsten Sohn noch stillte. Die Schmerzen kamen von der geplatzten Fruchtblase, eilig brachte man sie in ein städtisches Krankenhaus.

Francis ging es da schon sehr schlecht, doch man half ihr nur mit Antibiotika und Schmerzmitteln. Die Ärzte warteten. Sie warteten wegen des neuen Gesetzes, das Abtreibung unter Strafe stellt. Sie sagten, erinnert sich Francis’ Mutter, sie könnten nichts weiter unternehmen, bevor die Schwangere den Fetus nicht allein ausgestoßen habe. Auch Mediziner werden neuerdings hart bestraft.

Es dauerte mehr als 24 Stunden, bis die Fehlgeburt vorbei war. Und Francis ging es auch danach immer schlechter. Zwei Ausschabungen wurden gemacht. Sie wurde in die Frauenklinik verlegt, dort entfernte man schließlich ihre Gebärmutter. All das half nichts mehr, die Infektion hatte sich schon auf den ganzen Körper ausgebreitet. Das Fieber stieg, sie fiel ins Koma. Eine Woche nachdem Francis Zamora, 22, ihre Schwangerschaft bemerkt hatte, starb sie an einem septischen Schock. An ihrer Seite saß ihr Freund, der Vater ihrer Kinder, und hielt ihre Hand.

Vor der nationalen Frauenklinik Berta Calderón dösen Frauen unter den schattigen Mangobäumen, manche löffeln Reis mit Bohnen aus Plastiktüten. Drinnen kämpfen verrostete Ventilatoren an der Decke gegen die staubige Hitze der Trockenzeit an. Dr. José de los Ángeles Mendes, einen Stapel Papiere in der Hand, bahnt sich mit Trippelschritten einen Weg durch den grünen Flur. Dr. Mendes ist ein kleiner, untersetzter Mann, golden funkelt seine Uhr am Handgelenk, golden auch der Kugelschreiber in der Brusttasche seines weißen Kittels. Bis vor kurzem hat er die Notfallaufnahme der Klinik geleitet, er war Francis’ Arzt.

„Als Francis Zamora hier ankam“, sagt der Mittvierziger, „war sie mehr tot als lebendig. Wir konnten nicht mehr viel für sie tun.“ Dr. Mendes arbeitet seit 15 Jahren als Gynäkologe, er leitet an der Universität in Managua diesen Fachbereich. Er ist sich sicher: Wenn es das neue Gesetz nicht gäbe, würde die junge Frau noch leben. Natürlich ist er der Ansicht, dass ein Mediziner im Zweifelsfall immer das Leben des Patienten retten muss. Aber er verteidigt auch die Ärzte. „Wir stehen mit dem Rücken zur Wand.“ Er muss jetzt weiter, Leben retten.

Das Behandlungszimmer ist grau gefliest, an der Wand steht die gynäkologische Liege mit bunt gemustertem Bezug, daneben die silberfarbene Stehlampe. Tageslicht sickert nur durch ein milchiges Lamellenfenster unter der Decke herein. Was hier in dem Frauenzentrum in einer der Provinzhauptstädte, ein paar Stunden von Managua entfernt, jeden Mittwoch geschieht, soll keiner sehen. Was hier passiert, ist illegal. Wie in anderen Praxen wird auch nach der Gesetzesnovelle weiter abgetrieben, wenn auch nicht mehr so häufig. Und nicht immer aus streng therapeutischen Gründen.

So pragmatisch, wie Naida Velázquez (Name geändert) über das Thema Schwangerschaftsabbruch denkt, so pragmatisch drückt sie es aus: „Die Frauen brauchen Hilfe. Ich helfe ihnen, Gesetz hin oder her.“ Abtreibung ist für sie ein grundlegendes Frauenrecht.

„Bisher hatten wir zum Glück nie rechtliche Probleme“, die 47 Jahre alte Krankenschwester klopft dreimal auf den kleinen Holztisch neben sich. Seit 25 Jahren ist sie im Beruf, fast genauso lange führt sie auch Abtreibungen durch. Entspannt sitzt sie auf einem abgewetzten Drehstuhl, fährt sich zwischendurch durchs schwarz glänzende Haar.

„Ja, natürlich habe ich Angst. Alle haben wir Angst.“ Ihre Stimme klingt dennoch erstaunlich gelassen dabei. Stärker als die Angst, ins Gefängnis zu kommen, ist für sie aber auf jeden Fall die Überzeugung, das Richtige zu tun. Gerade wenn es um Frauen geht, die vergewaltigt wurden. Immer wieder tauchen junge Mädchen, zwölf oder dreizehn Jahre alt, bei ihr im Zentrum auf. Manchmal sogar in der Schuluniform direkt nach dem Unterricht. Irgendwo haben sie erfahren, dass hier abgetrieben wird, das nämlich ist ein offenes Geheimnis.

Manchmal, erzählt Naida Velázquez, würden die Patientinnen gar von der Polizei geschickt oder von einem staatlichen Gesundheitszentrum, samt Stempel und Unterschrift. Geschützt von der Doppelmoral können die Krankenschwester und ihre Mitstreiterinnen tun, was sie für richtig halten. Auch wenn es gegen das Gesetz ist. „Alle kommen sie“, stellt Naida Velázquez klar. Gebildete und ungebildete Frauen, vom Land, aus der Stadt. Eines haben sie gemeinsam: Sie wollen das Kind nicht bekommen.

Die Ärzte warteten. Sie warteten wegen des neuen Gesetzes, das Abtreibung unter Strafe stellt „Die Frauen brauchen Hilfe. Ich helfe ihnen.“ Abtreibung ist für Naida Velázquez ein Recht

„Zum Abtreiben braucht man nicht viel“, die Krankenschwester zeigt auf den Holzschrank an der Wand. Hinter den Glastüren liegen Pinzetten und Spekula, sterilisiert und eingewickelt in beigefarbene Baumwolltücher. Nicht zu sehen ist das Medikament, das hier eingesetzt wird: Cytotec, Wirkstoff Misoprostol. Eine kleine weiße Tablette, die eigentlich gegen Gastritis eingesetzt wird, aber eben auch eine Fehlgeburt provozieren kann. Normalerweise führen sie im Zentrum Schwangerschaftsabbrüche nur bis zur zehnten Woche durch. Das kostet 15 Euro, für die gesamte Behandlung. In einer normalen Arztpraxis, heimlich durchgeführt, ist das viel teurer. Mehrere hundert Euro.

„Ich, eine Mörderin?“ Naida Velázquez winkt ab. Auf die Diskussion, wann eigentlich Leben beginnt, lässt sie sich gar nicht erst ein. „Ich treibe doch nicht gerne ab.“ Aber sie will verhindern, dass Frauen ihre Schwangerschaft in „unsicheren Verhältnissen“ abbrechen. Mit Pestiziden aus der Landwirtschaft, einer Überdosis des Malariamedikaments Chloroquin oder einer Stricknadel – all das kommt vor. Oft wird dann der Fetus gar nicht oder nicht komplett abgestoßen, schwere Entzündungen sind nur eine der Folgen.

Auch bei Dr. Mendes, dem Gynäkologen, werden immer wieder Frauen eingeliefert, die selbst versucht haben, abzutreiben, oder die bei jemandem waren, der nicht viel davon versteht.

„Es sind doch vor allem wir Armen, die unter diesem schlimmen Gesetz zu leiden haben“, beklagt sich María Mora Valle, die Mutter der verstorbenen Francis. Achtzig Euro verdient sie pro Monat. „Die Reichen fliegen doch einfach nach Miami. Oder finden hier für viel Geld jemanden, der ihnen hilft. Und wir?“ Sie schüttelt den Kopf, verstummt. Sie hat erlebt, was dann passiert.

Ihr jüngster Enkel, anderthalb, tapst mit einem Malbuch in der Hand ins Zimmer. Wilmer Bermúdez nimmt ihn auf den Schoß, er will nicht über Politik reden. Damit konnte er noch nie viel anfangen, zu fern das alles. Zu kompliziert. Aber eine Sache wünscht er sich doch. Möglichst schnell müsse dieses Gesetz zurückgenommen werden, sagt er. Das Gesetz, das seine Francis sterben ließ. Irgendwie. „Für all die anderen, denen das Gleiche passieren kann.“