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Archiv-Artikel

Maschendrahtzaun und Knallerbsenstrauch

STRESS Eine Begegnung mit Andreas Roß, der freiwillig und unbezahlt Streit zwischen Nachbarn schlichtet, meist wegen Zäunen und Hecken

„Klar wäre es besser, wenn man einfach zum Nachbarn geht und redet“

ANDREAS ROSS, SCHLICHTER

VON PADDY BAUER (TEXT & FOTO)

Mit ihm wollen die Leute meistens über Zäune und Hecken reden: Andreas Roß ist Schiedsmann der Schiedsstelle II der Stadt Neuruppin in Brandenburg – und 90 Prozent seiner Fälle sind Nachbarschaftskonflikte.

Neuruppin, das ist eine kleine Stadt am Ruppiner See, rund 75 Kilometer nordwestlich von Berlin. Inmitten der Prignitz, Brandenburg. Andreas Roß wohnt etwas außerhalb – hier haben Menschen und Häuser mehr Platz als in einer Großstadt. Und es ist ruhig hier, idyllisch.

Es ist Herbst, die Blätter sind bunt gefärbt. Doch ein grauer Schleier liegt über allem. Es ist ein nebliger Tag. Grundstücke mit Einfamilienhäusern und kleinen Gärten vor oder hinter dem Haus prägen das Bild. Solide Mittelklasse-Limousinen und Familienautos stehen vor den Häusern. Um die Grundstücke meist ein Zaun, eine Hecke, Bäume oder ein Sichtschutz. Das ist meins, das ist deins. Hier verläuft die Grenze. Eigentlich ganz klar.

Aber trotzdem oft genug Grund für Streit, sagt Andreas Roß. Der 47-jährige Brandenburger ist seit zwanzig Jahren Schiedsmann. Er hat einen freundlichen, hellen Ton in seiner Stimme, wenn er über sein Amt, die rechtlichen Grundlagen und die vielen Erfahrungen spricht. Er freut sich, wenn Menschen sich für sein Tun interessieren. „Je mehr davon wissen, umso besser. Wenn Nachbarn zu uns kommen, dann können wir oft besser helfen als ein Richter“, sagt er.

Roß ist verankert in den Strukturen der Stadt. Er ist Mitglied des örtlichen CDU-Verbands. Lebt in einem Reihenhaus mit seiner Frau und den zwei Kindern. Dorthin hat er eingeladen, an einem Feiertag. Die Wohnung ist klar eingerichtet. Alles passt zusammen. Freundliche und warme Farben prägen Einrichtung und Wände. Es ist ordentlich. Als Schiedsmann kommt er, wenn es in der nachbarschaftlichen Beziehung brennt. Ehrenamtlich. Er versucht, die Ordnung wieder herzustellen – und das wird immer öfter nötig.

Wenn sich Nachbarn streiten und nicht einigen, wird es schnell ruppig. Um einen Prozess vor Gericht zu vermeiden, gibt es das gemeindliche Schiedswesen in nunmehr 12 von 16 Bundesländern. Die Schiedsstellen sollen die Gerichte entlasten, in dem sie einen Vergleich zwischen den Parteien erzielen. In Brandenburg sind sie bei Nachbarschaftsfällen obligatorisch. Erst wenn der Schiedsmann oder die Schiedsfrau keinen Vergleich erzielen kann, dürfen die Parteien vor Gericht ziehen.

„Das passiert jedoch deutlich seltener, wenn wir eingeschaltet werden“, sagt Andreas Roß. Er erzählt mit Stolz von seiner ehrenamtlichen Arbeit. Und von seiner Quote: „Siebzig Prozent aller nachbarschaftlichen Streitigkeiten, die bei uns landen, enden in einem Vergleich. Kein Prozess mehr nötig.“ Dass man dabei wenig Ruhm erntet, stört ihn nicht. Er macht es aus Überzeugung. Er will eine funktionierende Gemeinschaft. Frieden zwischen Nachbarn. Und das geht nur, wenn die miteinander reden. „Ihren Nachbarn werden sie so schnell nicht los“, sagt er, „da löst man besser den Konflikt.“

Hecke zu nah am Zaun

Hauptberuflich arbeitet er als Justizamtsrat. Er weiß, wie es vor Gericht enden kann, wenn Nachbarn sich streiten. Doch wenn er den Fall löst, hat das mehrere Vorteile. Vor Gericht erhält eine Partei recht. Die andere verliert: Die Hecke steht zu nah am Zaun und ist zu hoch. Juristisch ist die Sache klar. Die Hecke muss weg. „Das Verhältnis ist nach einem solchen Urteil in der Regel komplett zerstört, vergiftet“, sagt er. Aber dass die Hecke wirklich wegkommt, das will meist gar keiner. Nur dass sie etwas beschnitten wird. „Wir haben das Ziel, einen Kompromiss zu verhandeln.“ So verliert keine Seite.

Das entlastet die Gerichte und ärgert die Anwälte, sagt er. Anwälte erhalten natürlich kein Honorar, wenn Schiedsstellen ihnen die Fälle „wegschlichten“. Das freut ihn. „Nicht dass alle Anwälte nur Geld verdienen wollen, aber unser erstes Ziel ist immer die Schlichtung. Eine gemeinschaftliche Lösung, nicht die meines individuellen Mandanten.“ Gewinnen ist ihm nicht wichtig. Nur schlichten.

Es geht um den Knallerbsenstrauch. Den Maschendrahtzaun. Sind das nicht bloß Klischees? „Nein“, sagt er. Der Nachbar hat eine Hecke, die wächst, wird immer höher, ragt auf das andere Grundstück. Der andere Nachbar fühlt sich gestört, der Besitzer will aber die Hecke nicht beschneiden. Das sind die Konflikte. „Ich hatte in zwanzig Jahren dreihundertsechzig formelle Fälle, davon die meisten im Nachbarschaftsstreit. Das ist nicht nur alles Comedy.“

Dazu kommen aber noch mal vier- bis fünfmal so viele der sogenannten Tür-und-Angel-Fälle: „Die Menschen hier wissen ja, dass wir schlichten. Die kommen dann direkt zu uns und gehen gar nicht erst zum Gericht. Ich kenne Leute, die kommen alle zwei bis drei Jahre zu mir. Irgendwie schaffen die das nicht ohne Hilfe“, erklärt Andreas Roß. Er ist auch so was wie ein Beziehungsberater für Nachbarn. „Besser sie kommen zu mir, als wenn sie Selbstjustiz üben“, sagt er besorgt.

Selbstjustiz? Er weiß, dass viele das gar nicht glauben. Für einen Witz halten. Aber Selbstjustiz bringe nun einmal alles aus den Fugen, das juristische System und die Gemeinschaft. Das will er nicht. Einmal wurde er aufgrund von Hundelärm angerufen, ein Nachbar hatte sich gestört gefühlt. Andreas Roß hatte mit Besitzer und Nachbar einen Termin ausgemacht. Einige Tage später wartet er auf die beiden. Es kam jedoch keiner – ein anderer Nachbar, der sich auch gestört fühlte, hatte tags zuvor den Hund vergiftet. „Der dritte Nachbar hat das selbst in die Hand genommen“, sagt er und schwankt zwischen Betroffenheit und Entrüstung. Er kann nicht verstehen, dass Menschen Probleme auf solche Weise klären.

Hecke muss weg

Draußen am eigenen Haus hat Andreas Roß wenig Zäune. Vor dem Reihenhaus ein Carport. Etwas Rasenfläche. Alles ist offen. Im Garten auch kein Zaun zum Nachbarn und dessen Garten. „Ich halte davon nicht so viel, sich immer abzugrenzen“, sagt er. Er hat beim Einzug mit dem Nachbarn entschieden, den Garten gemeinsam zu nutzen. Kein Zaun, ein Weg. Die Kinder haben mehr Platz und „optisch ist das auch was ganz anderes“. Stimmt auch. Es sieht netter aus. Mehr Garten, weniger Korridor. Nur zum Weg hin, da ist ein Zaun. Ein ganz kleiner.

Doch nur wenige Meter weiter, in der unmittelbaren Nachbarschaft, dräuen Probleme. Andreas Roß zeigt auf ein Grundstück mit niedrigem Holzzaun. Direkt dahinter stehen große Tannen, mindestens drei Meter hoch. Die Äste ragen über den Zaun. „Das ist typisch“, sagt er. „Viel zu hoch, Überwuchs – und die Bäume sind zu nah am Zaun. Das ist dann ein Problem.“ Der eine Nachbar sitzt in der Sonne, der andere im Schatten der Tannen, sagt er.

Und warum nicht einfach sagen: „Hey, schneid doch bitte mal deine Hecke?“ und mit „Okay, hast wohl recht“ antworten? Tja, das weiß er auch nicht, sagt Herr Roß, „da müssen Sie mal einen Soziologen oder Psychologen fragen, warum wir so merkwürdig sind“. Aber die Deutschen seien das eben, merkwürdig. Mit Autos, mit Gärten und eben auch mit Zäunen.

Aber es wird mehr, das fällt ihm auf. Alle wollen immer ihr Recht durchsetzen, „Geiz ist geil“, Ich habe recht, ich will recht. Die Fähigkeit, zu verhandeln, geht verloren, sagt er. Stattdessen nimmt man dann seine Rechtsschutzversicherung in Anspruch und klagt. „Klar wäre es besser, wenn man einfach zum Nachbarn geht und redet. Bierchen trinken, Hecke schneiden, gut ist.“

Richtig rund geht es in der Datschensaison, sagt Roß. Berliner gegen Brandenburger. Der Städter kommt aufs Land und versteht die Regeln nicht: Ein Berliner kauft ein Grundstück für den Sommer, baut eine Datsche, einen neuen Zaun und pflanzt etwas Grün. Der Nachbar findet, das steht falsch. Der Konflikt ist da.

In einem Fall hatten sich ein Berliner und ein Brandenburger so sehr im Streit verfahren, dass das gesamte Gelände neu vermessen und erfasst werden musste. „Neue Grenzverlauffestsetzung, neuer Zaun und klare Regeln, festgehalten im Vergleich. Die Kosten wurden geteilt.“ Danach war Ruhe und Frieden, sagt er.

Aber warum tut er sich so etwas an? Warum verbringt er seine Freizeit mit den Konflikten anderer Leute? „Man muss schon Idealist sein, aber schlichten ist eine feine Sache“, sagt er, „ich kann den Gemeinschaftsfrieden wiederherstellen.“ Ihm fallen genügend Beispiele ein, in denen er das geschafft hat. Dann sagt er: „Da bin ich wieder ausgerückt.“ Ausrücken. Wie die freiwillige Feuerwehr. Das passt ganz gut.