: Die Wahl der Angst
USA Der wahre Gewinner war die geschürte Furcht – vor der Welt oder vor sich selbst. Und den Demokraten fehlte es an Rückgrat und Taktik. Jetzt kommt eine Übergangszeit
■ 65, arbeitet bei der Washington Post. Er ist zweifacher Pulitzerpreisträger, unter anderem für seine Berichterstattung über Bill Clintons Wahl 1992. Der jahrzehntelange Präsidentenbeobachter ist auch Autor einer Biografie über Obama.
AUS WASHINGTON DAVID MARANISS
Bei Wahlen ist nichts so wichtig wie die Frage nach Gewinnern und Verlierern. Bei den Halbzeitwahlen in den USA vom vergangenen Dienstag war der offensichtliche Verlierer Präsident Obama, obwohl er gar nicht zur Wahl stand. Der offensichtlichste Gewinner war die Republikanische Partei, die mehr als genug Senatssitze hinzugewann, um die Kontrolle des Senats zu übernehmen, und darüber hinaus ihre ohnehin schon dominante Rolle im Repräsentantenhaus und bei den Gouverneursposten stärken konnte. Aber wirklich gewonnen hat etwas anderes: die Angst.
„Das Einzige, wovor wir wirklich Angst haben müssen, ist die Angst selbst“, sagte einmal Franklin Delano Roosevelt, der größte amerikanische Präsident des vergangenen Jahrhunderts. Und das war noch nie so wahr wie in diesem November. Angst war überall. Aufseiten der Republikaner war es eine irrationale Angst vor der ganzen Welt. Aufseiten der Demokraten war es die rückgratlose Angst vor sich selbst und der eigenen Politik. Für beide Parteien, wenn auch auf unterschiedliche Weise, verkörperte Barack Obama ihre Ängste.
Manches davon lag außerhalb seiner Kontrolle, manches war seiner eigenen Performance geschuldet – in jedem Fall aber erklärt das Zusammenspiel der verschiedenen Ängste mit der Figur Obama, was da in diesem November passiert ist. Die Welt, in der wir leben, ist eigentlich furchteinflößend genug, aber die Republikaner schafften es, unterstützt noch durch die Medien, sie noch um ein Vielfaches erschreckender aussehen zu lassen.
Ebola war auf dem Weg zu uns, um uns umzubringen, und wenn uns nicht das Virus erwischte, dann waren es die radikalislamischen Verbrecher vom IS. Die Bundesregierung war außer Kontrolle geraten und trieb die Nation auf ihrem Weg zum Sozialismus in den Bankrott, sie vertuschte mutmaßliche Skandale in Benghasi und beim Rechnungshof, sie ließ es zu, dass Heerscharen von illegalen Ausländern unsere löchrigen Grenzen überwinden, macht unser Gesundheitssystem kaputt, will uns unsere Waffen wegnehmen und nimmt uns unsere Freiheiten.
Und all das, was da durch Lügen und Hype zu einem Zerrbild der Wirklichkeit aufgeputscht wurde, war Obamas Schuld. Die Nonstop-Angst-vor-Obama-Kampagne hat die moderne Weisheit bestätigt, dass sich etwas in den Köpfen der Menschen als Wahrheit festsetzt, wenn man es nur oft genug wiederholt. Und diese Angstkampagne war, wenn auch nicht offen, noch angereichert durch den latenten Rassismus, der dem ersten schwarzen Präsidenten seit seinem ersten Tag im Amt entgegenschlug.
Die Demokraten auf der anderen Seite schienen sich vor ihrem eigenen Schatten zu fürchten. Ihr Führer hat eine Wirtschaft stabilisiert, die bei seinem Amtsantritt kurz vor dem Kollaps stand. Durch seine Politik ist die Arbeitslosenquote von 7,9 auf gesunde 5,9 Prozent gesenkt worden, er hat die USA aus zwei Kriegen herausgeholt, und er hat Millionen Menschen eine Krankenversicherung verschafft, die zuvor keine hatten.
Trotzdem haben die demokratischen Kandidaten ihn und seine Errungenschaften gemieden wie der Teufel das Weihwasser, einfach aus Angst, dass seine niedrigen Beliebtheitswerte – 44 Prozent Zustimmung, in einigen umkämpften Staaten noch weniger – sie mit in den Abgrund ziehen würden. Auch Obama selbst versuchte es mit recht unvorteilhaftem Herumeiern, als er zum Beispiel davor zurückschreckte, noch vor den Wahlen in Sachen Migrationsreform aktiv zu werden, um die Wahlchancen einiger demokratischer Senatskandidaten nicht zu gefährden – sie verloren am Ende alle.
Wie ist es dazu gekommen? Aus Sicht der Republikaner war all das kein Zufall. Ihre Strategen hatten schon lange den Plan entwickelt, diese Wahlen zu einem Referendum über Obama zu machen, und zu diesem Zweck jedes einzelne Weltproblem zu einem weiteren Beispiel mangelnder Führungsfähigkeiten des Präsidenten zu erklären. Eine Gegenstrategie auf demokratischer Seite gab es nicht.
■ Die Wahl am Dienstag: Obamas Demokraten erleiden eine bittere Schlappe. Die Republikaner haben nicht nur ihre Dominanz im Repräsentantenhaus ausgebaut – dort könnten sie letztlich auf bis zu 250 der 435 Sitze kommen, einen historischen Höchststand. Erstmals seit Jahren gewannen sie auch die Mehrheit im Senat und könnten dort bis zu 54 der 100 Sitze bekommen (es fehlen immer noch einige Endergebnisse).
■ Gouverneurswahlen: Auch dort Verluste für die Demokraten. Sie konnten zwar Pennsylvania gewinnen, verloren dafür aber mindestens vier andere Staaten, darunter die Hochburg Massachusetts und Obamas Heimatstaat Illinois. Blau blieben immerhin New York mit Andrew Cuomo und Kalifornien mit Schwarzenegger-Nachfolger Jerry Brown.
■ Wie weiter: Nach ersten Anzeichen der Kompromissbereitschaft gehen die Republikaner schon wieder zum Angriff über. Kurz vor einem Treffen mit Barack Obama am Freitag warnten sie den Präsidenten vor politischen Alleingängen. John Boehner, Sprecher des Repräsentantenhauses, sprach gar von politischer Brunnenvergiftung. Offenbar fürchten sie, dass Obama die Taktik seines republikanischen Vorgängers George W. Bush anwendet: Der hatte die demokratische Mehrheit im Kongress durch Vetos blockiert und ausgiebig die Möglichkeit von US-Präsidenten genutzt, durch Verordnungen zu regieren. Obama hat das gestern angedeutet. (taz, ap, dpa)
Das Verhältnis zwischen dem Weißen Haus und der demokratischen Kongressführung war ziemlich gestört; Obamas Charakter hat die immer vorhandenen strukturellen Schwierigkeiten dieses Verhältnisses noch verstärkt. Er war verschlossen, schüchtern fast. Und anders als der letzte demokratische Präsident, Bill Clinton, lebte er auch nicht dafür, ständig Leute um sich zu haben und Bestätigung zu bekommen. Clinton brauchte das. Es hieß, er hasste es so sehr, allein zu sein, dass er mitunter sogar Freunde fragte, ob sie vorbeikommen könnten, nur um ihm beim Lösen eines Kreuzworträtsels zuzusehen.
Obama war intellektuell und rational, aber nicht wirklich ein Vollblutpolitiker. Er ließ durchblicken, dass er wirklich alles lieber täte, als mit Kollegen ein Schwätzchen zu halten – eine Attitüde, die ihm wenig Freunde am Capitol Hill einbrachte. Jetzt, so scheint es, bekommen alle dafür die Kosten präsentiert.
Aber diese Wahl der Angst hat auch etwas Positives: Alles daran scheint vorübergehend. Die Wähler haben den Republikanern kein Mandat für eine bestimmte Politik erteilt, und bei den Präsidentschaftswahlen 2016 könnte die politische Landschaft schon wieder ganz anders aussehen. Die Geschichte der Vereinigten Staaten ist eine einzige Abfolge widersprüchlicher Impulse, bei der Hoffnung und Angst ständig im Widerstreit stehen. Diesmal hat die Angst gewonnen, aber das wird nicht immer so sein.
Übersetzung: Bernd Pickert
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