piwik no script img

Archiv-Artikel

Ein Gesicht für das Münzviertel

Ein neunköpfiges Künstlerkollektiv plakatiert 750 Meter Beton im Münzviertel mit „subjektiven Fotografien“. Ziel ist es, dem vergessenen Viertel hinterm Hühnerposten ein Gesicht zu geben. Heute um 19 Uhr wird das Werk übergeben

Michael Strauss lehnt an einem Kotflügel und gibt Instruktionen. Eigentlich sind Befehle nicht sein Fachgebiet. Strauss ist Künstler, einer von den uneitlen. Doch dieses Werk kann er unmöglich allein fertig stellen. Fünf Plakatierer führen aus, was Strauss als Teil der Künstlergruppe „Netzwerk für eine subjektive Fotografie“ ersonnen hat: 750 laufenden Metern S-Bahn-Trasse eine schwarz-weiße Fototapete zu verpassen. Vom Hühnerposten bis zum Nagelsweg wird die triste Betonwand Abschnitt für Abschnitt mit den Bildern der Künstler beklebt. Macht 2.500 Quadratmeter Zellstoff. Das Foto, an dem Strauss gerade arbeiten lässt, zeigt geheimnisvolles Geäst in voller Blüte und dazwischen noch geheimnisvollere Figuren. Ein Märchenwald auf fünf mal zehn Metern. Grobkörnig, überdimensional.

„Absage an die Wirklichkeit“ lautet der programmatische Titel der Aktion. „Unsere Fotos täuschen keine Realität vor, sie sind metaphorisch, lyrisch“, erklärt Tim Kellner, ein weiterer Künstler aus dem Netzwerk. „Sie drücken die grundsätzliche Haltung aus, dass Bilder keine Wirklichkeit zeigen, dass Abbilder immer nur Abbilder sind.“ Gemälde eigentlich, bloß mit Kamera und Computer geformt, statt mit Pinsel und Palette. Otto Steinert, der 1978 verstorbene Professor der Essener Folkwangschule für Gestaltung, war es, der den Begriff der „Subjektiven Fotografie“ in den 50er Jahren prägte. Auf ihn bezieht sich die Gruppe.

Gemeinsam ist den Künstlern zudem, dass sie mit der Mammut-Aktion hinterm Hauptbahnhof Neuland betreten. Den Schritt aus dem weißen Würfel Galerie macht man als Fotokünstler selten. Da ist zum einen die Größe des Werkes. „Wenn man nicht einen Schritt zurückgeht, erkennt man gar nichts“, sagt Strauss. Zudem lese sich das Werk kaum wie ein Bild. Eher zieht es wie ein Film an einem vorbei. Organisatorin der grandiosen Papierschlacht ist die Künstlerin Janet Riedel. Die gebürtige Dresdnerin lebte seit drei Jahren in Hamburg, als sie zum ersten Mal das vergessene Viertel hinter der Zentralbibliothek betrat. Auf einer Party im „KuBaSta“, einem Projektraum für „Kunst, Bauen und Stadtentwicklung“, lud man sie ein, ihre Bilder auszustellen. „Doch es gab zu wenig Platz. Da kam uns die Idee, das draußen zu machen“, erzählt Riedel. „Das hat an diesem Ort auch eine soziale Komponente: Diese Straßen hier existieren in der Wahrnehmung vieler Menschen gar nicht. Das wollen wir verändern.“

Sie trommelte ihr Netzwerk zusammen und gemeinsam zog man in den Papierkrieg: Eine Genehmigung von der Deutschen Bahn musste her, Sponsoren wie die Kulturbehörde, das „KuBaSta“ oder „Plakate Hansen“ wollten überzeugt werden. Doch die Vorbereitungszeit ist heute kein Thema für Riedel. Viel zu aufregend ist das Projekt. Papierbahnen müssen noch geschnitten, die Arbeit von 20 Mitwirkenden koordiniert werden. Und über all dem schwebt die Frage: Was passiert, wenn alles hängt? Was werden die Menschen im Viertel in den sechs Wochen Laufzeit mit dem Bild machen?MATHIAS BECKER

Eröffnung: heute, 19 Uhr in der Münzstraße. Führungen: Im Rahmen des Straßenfestes in der Münzstraße, 16. 6., 11-16 Uhr