: Musizieren mit Händen und Füßen
UMSONST UND DRAUSSEN Das Carillon am Haus der Kulturen der Welt ist eines der ungewöhnlichsten Instrumente Berlins. Am Wochenende erklingen die Glocken bei der „Musik im Freien“, kombiniert mit elektronischer Musik
VON TIM CASPAR BOEHME
Das Wort „Glockenspiel“ weckt in der Regel Erinnerungen an präpubertäre Unterweisungsformen wie Musikalische Früherziehung oder Grundschulunterricht: ordentlich aufgereihte Metallplatten, dazu die obligaten Holzklöppel, um mit etwas Glück Weisen wie „Hänschen klein“ oder „Alle meine Entchen“ zu rekonstruieren. Dabei wird das Glockenspiel neben Vibrafon oder Xylofon auch als veritables Orchesterinstrument eingesetzt. Wer es gern noch eine Nummer größer hat, kann an diesem Wochenende das Glockenspiel im Tiergarten erklingen hören, das Carillon am Haus der Kulturen der Welt. Dort lädt das Festival „Musik im Freien“ zu Konzerten für „Carillon und/oder elektronische Musik“.
Vor vierundzwanzig Jahren wurde das kolossale Instrument zur 750-Jahr-Feier der Stadt Berlin erbaut. Mit 42 Meter Höhe und einem Gewicht von 48 Tonnen ist es das viertgrößte Glockenspiel der Welt. Seine 68 Glocken sind chromatisch gestimmt und ergeben einen Tonumfang von fünfeinhalb Oktaven, was rund zwei Dritteln einer Klaviertastatur entspricht. Allein die größte Glocke wiegt 7,8 Tonnen.
Warum so ein monströses Gebilde? Angeregt wurde das Riesenschlagwerk vom kalifornischen Carillonneur Jeffrey Bossin. Bei seinem Projekt handelt es sich jedoch weniger um amerikanischen Superlativismus als um einen kulturellen Reimport, mit dem Bossin an eine Berliner Tradition anknüpfen wollte. Bis zum Zweiten Weltkrieg gab es hier die Turmglockenspiele der Parochialkirche und der Potsdamer Garnisonkirche aus dem 18. Jahrhundert, die beide bis zu ihrer Zerstörung regelmäßig zu hören waren. Nach dem Krieg wurden sie nicht wieder aufgebaut, und so konnte Bossin den Berliner Senat von der Idee überzeugen, als Ersatz ein Carillon im Park ganz ohne Kirchenanschluss zu errichten. An einen Kirchturm erinnert der strenge Entwurf mit seinen schwarzen Granitplatten gleichwohl.
Die ersten Carillons, die in der Mehrheit in Kirchtürmen untergebracht waren, wurden im 17. Jahrhundert in den Niederlanden gebaut, und dort stehen auch heute noch die meisten Glockenspiele dieser Art, gefolgt von Belgien und den Vereinigten Staaten. Die Glocken für Berlin hat die holländische Gießerei Koninklijke Eijsbouts angefertigt – nach Plänen von Bossin, der das Instrument selbst regelmäßig spielt.
„Glöckner“ wie Bossin sind heute selten. Die meisten Glockenspiele in Deutschland werden von Organisten bedient, und die Tastatur samt Fußpedal erinnert tatsächlich an das Positiv einer Kirchenorgel, hat allerdings mit weit größere Abständen zwischen den riesenhaften Tasten. Statt mit den Fingern spielt man mit der geballten Faust – Bossin trägt zum Schutz Lederhandschuhe. Der Klang wird mechanisch erzeugt und gestattet sogar dynamisches Spielen, je nachdem, wie viel Schlagkraft man aufwendet. Das Berliner Carillon verfügt zudem über eine computergesteuerte Automatik, die jeden Tag um 12 und 18 spielt – ohne Anschlagsdynamik.
Anders als bei einer Orgel gibt es für den Spieler, der oben im Turm zwischen den Glocken sitzt, einige technische Beschränkungen. Wie der Komponist Hans W. Koch, dessen „Berlin Bahn Bells“ am Sonntag zu hören sein werden, es beschreibt, muss man bei Carillonstücken – für menschliche Spieler zumindest – „gewisse Grenzen respektieren“. Schnelle Tonwiederholungen etwa sind nicht möglich, und „Töne, die mehr als vier Oktaven auseinanderliegen, können nicht gleichzeitig angeschlagen werden“ – einfach weil der Abstand zwischen den Tasten zu groß ist.
Noch interessanter als die technischen Gegebenheiten des Instruments findet Koch die akustischen Besonderheiten: „Die Glocken des Berliner Carillons betonen als Oberton die Terz, auch ist der Klang einer Glocke reicher an verschiedenen Obertönen als bei anderen Instrumenten, wodurch eine einzelne Glocke schon ziemlich komplex klingt.“ Koch betont allerdings, dass er eigentlich gar kein Stück für das Carillon geschrieben habe, sondern „ein Computerprogramm, das aus Bahnhofsklängen nach einem gewissen Plan Tonhöhen extrahiert und sie dem Carillonneur als Noten auf ein Display schickt.“
Koch kam die Idee, die Klänge des in der Nähe gelegenen Hauptbahnhofs per Mikrofon aufzuzeichnen und über Lautsprecher auf dem Carillon abzuspielen, „um die vorhandene Wirklichkeit zu akzentuieren“. Da der Wind die Klänge des Instruments gelegentlich bis dorthin trägt, kann man die Glockentöne morgen mit ein wenig Glück verdoppelt hören. Wer eher auf Nummer sicher gehen will, kommt schon heute voll auf seine Kosten: Dann stehen auf dem Programm auch Stücke mit vorab aufgenommenen Glockentönen.
■ „Musik im Freien“: Carillon im Tiergarten, heute 17 und 23 Uhr, Sonntag 15 Uhr. www.carillon-berlin.de