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Archiv-Artikel

Das Gefühl der Bedrohung

KINO Noaz Deshe erzählt in „White Shadow“ die Geschichte eines verfolgten Jungen in Tansania

Man fühlt sich augenblicklich verloren in den Bildern des israelischen Filmemachers und Multimediakünstlers Noaz Deshe, die zunächst scheinbar überhaupt keine Geschichte erzählen wollen. Expressive Unschärfen, angeschnittene Close-ups, abrupte Schnitte, eine mitunter entfesselte Kamera ohne ein offensichtliches erzählendes Subjekt und undurchdringliche Nachtaufnahmen tauchen die Sinneseindrücke in einen diffusen Zwischenzustand.

Die visuellen Texturen des Films sind einer Wahrnehmung geschuldet, die sich aus gutem Grund der Realität verweigert. Hauptfigur von Deshes Regiedebüt „White Shadow“ ist der Albino-Junge Alias, der mit seinen Eltern in einem Dorf in Tansania lebt. Für Albinos ist das ostafrikanische Land ein gefährliches Pflaster, ihre Organe sind auf dem Schwarzmarkt begehrt. Ein alter Aberglaube, der die Jahrhunderte überdauert hat, sagt ihnen magische Kräfte nach.

Etwas Zauber könnte dieses Land, in dem die Menschen so arm sind, dass sie für ihr Überleben sogar töten würden, allerdings durchaus vertragen. Eines Nachts wird Alias’ Vater von einer Gruppe Männer überfallen und in Stücke gehackt. Die Mutter schickt den Jungen darauf in die Stadt, in die Obhut ihres nichtsnutzigen Bruders Kosmos, der auch ohne Alias schon genug Probleme hat. Ein lokaler Kredithai will sein Geld, sonst holt er sich Kosmos’ Lieferwagen ab.

Eine süße Performance

Mit dem Jungen kann Kosmos nicht viel anfangen, aber seine Tochter Antoinette findet Gefallen an Alias, der sich vor den traumatischen Erlebnissen in die Fantasiewelt eines Kindes flüchtet, dem keine Kindheit vergönnt ist.

Auf einer riesigen Müllhalde halten er und Antoinette einmal ein spielerisches Liebesgeplänkel über defekte Handys, eine süße Performance, die sie sich vielleicht aus einer Soap abgeguckt haben. Nachts müssen sie die gefährlichen Straßen ablaufen und für Kosmos illegale CDs und Plastikspielzeug verkaufen.

Deshe hält seinen Film über annähernd zwei Stunden in dieser Schwebe zwischen lakonischem Sozialrealismus und dislozierten, mitunter abstrakten Einstellungen, die die dokumentarischen Effekte auf unheimliche Weise durchkreuzen. „White Shadow“ hätte leicht die Form eines verfilmten Zeitungsartikels annehmen können – zumal, wenn ein bekannter Hollywood-Name wie Ryan Gosling in den Produzenten-Credits auftaucht. Deshe aber verweigert sich konsequent einem stringenten Erzählfluss. Mit seinen sprunghaften, oft desorientierten Kamerabewegungen erzeugt der Film ein permanentes Gefühl von Bedrohung und Isolation: die subjektive Perspektive von Alias.

Aberglaube und Alltag

Deshes mitunter etwas überambitionierter Stilwillen erfüllt dabei keineswegs einen Selbstzweck. Statt Alias’ „Schicksal“ als formative Geschichte zu erzählen, geht es dem Regisseur vielmehr um den Eindruck eines Traumas, eine Art filmische Anamnese. Denn auch eine Solidargemeinschaft kann es für den Jungen nicht geben.

Das Heim, in dem die Albino-Kinder unterkommen, macht sie zu einer leichten Beute. Sein kleiner Freund Salum, ein selbsterklärter Hexenmeister, stellt sich vor, wie er seine Arme ausbreitet und einfach davonfliegt. Aberglaube und Schamanismus sind in „White Shadow“ tief im Alltag der Menschen verankert. Manchmal geben die magischen Kräfte auch Anlass zur Hoffnung.

ANDREAS BUSCHE

■ „White Shadow“. Regie: Noaz Deshe. Mit Hamisi Bazili, James Gayo, Tansania/USA/Italien 2013, 115 Min.