: Die Kunst der Überschreitung
MAXIM GORKI THEATER Widerstand im Theater ist manchmal mehr renitent als relevant. Das Festival „Voicing Resistance“ aber hat sich mit der Aktion „Die Verwundeten“ doch in die Aufmerksamkeit der Politik katapultiert
VON TOM MUSTROPH
Widerstand war groß geschrieben am Wochenende. Vor allem vergangenem Widerstand wurde anlässlich des Jubiläums des Mauerfalls in den Palästen der heute Mächtigen der rote Teppich ausgerollt. Das war bequem. Denn dieser Widerstand, der massiv artikulierte Wunsch nach der freien Gestaltung des eigenen Lebens, hatte sich gegen den Gegner der aktuellen politischen Elite gerichtet. Aktueller Widerstand, also die Bestrebungen zur freien Gestaltung des eigenen Lebens heute, hat es da schon schwerer. Dazu könnten nicht nur die Flüchtlinge von der Ohlauer Straße einen großen Gesang anstimmen.
Mit einem kleinen Gesang über die Enttäuschung an Europa eröffnete das Festival „Voicing Resistance“ im Gorki-Theater. Mit ihm rechnete die moldauische Künstlerin Nicoleta Esinencu mit der nur oberflächlichen Erneuerung in ihrem Lande ab. Esinencu schrieb ihr Stück „Fuck You, Eu.ro.Pa!“ vor 10 Jahren, während eines Stipendiums auf Schloss Solitude bei Stuttgart. Der Text wurde im Jahr darauf bei der Biennale Venedig vorgestellt – und umgehend in der moldauischen Heimat der Künstlerin verboten.
Zehn Jahre später mutet „Fuck You, Eu.ro.Pa!“ auf der Bühne etwas naiv an. Selbst für die Autorin. „Damals war das ein naiver Aufschrei. Heute könnte ich viel genauer die Gründe für ein ‚Fuck you, Europa‘ angeben“, meint Esinencu, die mit aktuellen Arbeiten am Rumänien/Moldau-Festival „Good Guys only Win in Movies“ am HAU zu sehen war. Als Gründe gibt sie an, dass die Republik Moldau zwar inzwischen als eine Art Kollateralempfängerland im Rahmen der Ukraine-Krise einiges an Geld von der EU für einen eigenen Reformprozess erhält. Der allerdings werde lediglich nach Brüssel gemeldet, während die regierenden Oligarchen sich geruhsam das Geld einsteckten.
Zu einer solchen Analyse kam der mit alten Texten bestrittene Esinencu-Doppelabend „Fuck You, Eu.ro.PA!“ und „Odessa Transfer“ nicht. Die Schauspielerin Ruth Reinecke entschied sich in „Odessa Transfer“ für eine harmlose kindliche Perspektive. Marina Frenk, in Moldau geboren und Mitglied des Ensembles des Gorki-Theaters, steigerte sich in „Fuck You, Eu.ro.Pa!“ wenigstens in adoleszente Rotzigkeit. Doch trotzdem war der Festivalauftakt bestenfalls von Renitenz, aber nicht von Resistenz gekennzeichnet.
Ganz anders die Aktion „Die Verwundeten“, die auch zum Programm von „Voicing Resistance“ gehört. Das Zentrum für politische Schönheit hatte am Reichstagsufer Gedenkkreuze für Mauertote abmontiert und suggeriert, sie zum Gedenken für die an den Mauern der Festung Europa gestorbenen Flüchtlinge an die EU-Außengrenzen zu bringen (siehe taz vom 4. + 5. 11.). Die Aktion löste Proteste aus.
Tatsächlich stellte sich Unbehagen ein, wenn man am Abend des 9. Novembers 2014 zu den leeren Fassungen der Kreuze trat. Ist hier die Erinnerung an die von DDR-Grenzsoldaten erschossenen Menschen beschädigt? Die bedrückende Leere war zumindest für drei der Maueropfer, Ingo Krüger, 21 Jahre alt zum Todeszeitpunkt, Philipp Held (19) und Axel Hannemann (17), mit behelfsmäßigen Papierkreuzen beseitigt, auf denen Namen und Todesdaten in Handschrift standen.
Aufgeregte Politiker
Paradoxerweise aktivierte die Aktion des Zentrums für politische Schönheit also das Gedenken an diese Opfer; das Fehlen der Kreuze war zuvor weder dem Land Berlin noch dem Bundestag, in dessen Bannmeile die Gedenkstätte liegt, aufgefallen. Dieses Aufmerksamkeitsdefizit steht in seltsamem Kontrast zu den wütenden Kommentaren manches Politikers an der Aktion.
Noch bezeichnender ist allerdings, dass bislang niemand die Einladung der Künstler annahm, über den Umstand nachzudenken, dass die Flüchtlinge von einst unter den gegebenen politischen Bedingungen von heute als Helden und Märtyrer verehrt werden, während die Flüchtlinge von heute, denen es ebenfalls um größere Freiheitsgrade im eigenen Leben geht, kriminalisiert werden, wenn ihnen der Grenzübertritt gelingt. Viele andere sterben aber – wie jene, für die die weißen Kreuze stehen.
Das ist ein Zusammenhang, auf den hinzuweisen nicht strafbar sein sollte. Ausgerechnet Innensenator Frank Henkel droht in einem Beitrag im Tagesspiegel juristische Konsequenzen an. Er fordert die dringende Aufklärung der Beteiligung des Maxim Gorki Theaters an dieser Aktion. Spricht er hier als oberster Dienstherr der Polizei? Greift er populistisch einem normalen Untersuchungsprocedere voraus? Will der Innenpolitiker gar Einfluss auf Fördergelder im Kulturbereich nehmen? Solcherart Überschreitungen sind bislang eher für Postsowjetistan typisch. So hat die Aktion ein seltsames Politikverständnis in Berlin ans Licht gebracht.
■ Die Reihe Voicing Resistance geht bis 4. Dezember