: Bescheidener letzter Sonntag
ABSCHIED Ein Blick in die letzte Ausgabe einer Boulevard-Legende
„Thank you & Goodbye“ titelt die letzte Ausgabe der News of the World, dahinter eine Collage aus Titelseiten vergangener Ausgaben. Das überrascht, denn mit Bescheidenheit hatte das Revolverblatt nie viel am Hut. Und was noch schlimmer ist: Die turbulenten Ereignisse der letzten Wochen werden totgeschwiegen.
Warum? Vermutlich steckt hinter der Totschweigetaktik News of the World-Verleger Rupert Murdoch, der nur noch will, dass der geschäftsschädigende Skandal um sein Skandalblatt endlich aus den Schlagzeilen verschwindet. Auf der zweiten Seite der letzten Ausgabe ist es mit der Bescheidenheit schon wieder vorbei. Da wirft die Gazette einen tränenreichen Blick in ihre „ruhmreiche“ Vergangenheit und zeigt eine Auswahl der besten „Enthüllungsgeschichten“.
Auf den Seiten 4 und 5 geht es dann voll zur Sache: „Helden & Schurken“ verkündet die Überschrift, und der preisgekrönte Mitarbeiter Mazher Mahmood erklärt seinen Lesern, wie die Zeitung britische Kids vor Pädophilen gerettet hat. Auf Seite 8 erinnern die Redakteure an das nackte Mädchen von Seite 3, eine Rubrik, die als herausragender Erfolg gefeiert wird. Unterzeile: „Wie Kelly und Co Millionen eine Freude machten“.
Ansonsten finden sich in der finalen Ausgabe Promiklatsch und die üblichen „schonungslosen“ Enthüllungen, die allesamt um die Themen Sex, Drogen und Verbrechen kreisen. Viel spannender ist dagegen die Sonderbeilage, die mit der ersten Nummer vom 1. Oktober 1843 und der Schlagzeile „Crippen’s Life at Sea“ auf der Titelseite beginnt. Von der ersten Ausgabe an weiß der Leser, woran er ist: Dr. Crippen war nämlich ein berühmt-berüchtigter amerikanischer Mörder. Und das ist der Tenor der nächsten 168 Jahre: Die Briten wurden stets auf dem Laufenden gehalten darüber, wer wann wo mit wem Sex hatte und dabei welche Drogen nahm.
Auf der letzten Seite will die Redaktion ihren verbliebenen Lesern glaubhaft machen, dass sogar der britische Schriftsteller George Orwell zur ihren Fans gehörte: „Du legst die Füße hoch, ziehst die Brille auf die Nase und öffnest die News of the World.“ Ganz klar, wenn sogar Orwell das Boulevardblatt gelesen hat, kann es doch gar nicht so schlecht sein. Das Zitat stammt allerdings von 1946, und das war viele Jahre bevor Rupert Murdoch News of the World übernahm.
FRANK HEINZ DIEBEL