: „Rette sich, wer kann!“
RUSSLAND I Immer mehr junge hochqualifizierte Russen kehren ihrer Heimat den Rücken. Sie sehen dort für sich keine Perspektive oder fliehen vor der Korruption der Behörden
AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH
Alexei hat an einer kalifornischen Eliteuniversität Betriebswirtschaft studiert. Der 26-Jährige wuchs in den USA auf, wo die Eltern in den 90er Jahren eine Niederlassung ihres russischen Unternehmens aufmachten. Nach dem Studium wollte er unbedingt in die Heimat der Eltern zurückkehren. „Ich war überzeugt, es ginge mit Russland aufwärts“, sagt er.
Nach anderthalb Jahren als gut bezahlter Experte in Moskau zieht er ein trauriges Fazit: „Neue Ideen sind nicht gefragt, ich werde nicht gebraucht. Ein ewiger Kampf.“ Alexei trägt sich mit dem Gedanken, sich wieder einen Job in den USA zu suchen. Korruption, Vetternwirtschaft und eine innovationsfeindliche Bürokratie vereitelten jeden Fortschritt. „Ich sehe keine Perspektive für Russland“, meint der junge Immigrant.
Wie Alexei denken viele hochqualifizierte Jüngere in Russland. Nach der großen Emigrationswelle der 90er Jahre zeichnet sich ein neuer Exodus ab. Laut Schätzungen des russischen Rechnungshofes wanderten im vergangenen Jahrzehnt 1,25 Millionen Bürger in den Westen ab. Die Tendenz könnte noch steigen, fürchten Migrationsexperten, wenn Wladimir Putin 2012 als Präsident wieder in den Kreml einzieht – und dies gleich für zwei Amtsperioden bis 2024. Modernisierung von Staat und Gesellschaft würde dann endgültig ad acta gelegt.
Vor allem aktivere und hochqualifizierte Bürger verlassen das Land oder tragen sich zumindest mit dem Gedanken. Darunter besonders die Generation um die 30, die schon Arbeitserfahrungen hat und für sich keine Zukunft mehr sieht. Emigration ist wieder ein Thema.
In der gelenkten öffentlichen Diskussion wird das Problem aber wohlweislich umgangen. „Wer nicht auf Beziehungen zum Geheimdienst FSB, zur Staatspartei Vereinigtes Russland oder Gazprom zurückgreifen kann, der hat keine Aufstiegsmöglichkeiten“, sagt der Publizist Dmitri Oreschkin. Die politische Elite hält Schaltstellen und Pfründen für ihre Klientel besetzt.
Alle Emigranten und Emigrationswilligen teilen das Gefühl der Perspektivlosigkeit für sich persönlich und für Russland. Individuell sind es sehr unterschiedliche Motive, die in Umfragen und Blogs als Gründe angegeben werden. Mal sind es die Arbeit und das niedrige Gehalt, das schlechte Bildungssystem für die Kinder, mangelnde Gesundheitsversorgung und Umweltbelastungen. Andere haben Korruption und Willkür der Sicherheitsorgane satt, Angst vor rechtsradikalen Pogromen oder islamistischen Anschlägen.
Mit der Aussicht auf weitere zwölf Jahre Putin schreibt der Künstler Andrei Bilschow auf der Website der Zeitschrift Snob.ru: „Entweder bricht alles zusammen oder explodiert und danach kommt etwas Fürchterliches, oder es geht noch kurz so weiter und dann droht ein neuer Schrecken“. Der Tenor der Beiträge gleicht sich: Der Untergang des Systems sei unausweichlich, was danach entstünde, wecke auch wenig Hoffnung. Russlands nationale Idee, meldet sich ein anderer Blogger aus London zu Wort, laute: „Rette sich, wer kann!“ Alexander Ausan von der Moskauer Lomonossow-Universität beobachtet den Braindrain auch in der eigenen Studentenschaft. Die Hälfte seiner besten Studenten ginge ins Ausland. Im Gegensatz zu früher wollen die Absolventen aber nicht mehr zurückkommen. Nach den Wissenschaftlern verlasse auch das „bisnis“ das Land: große und reiche Firmen in Richtung Westen, mittlere und kleine nach Kasachstan.
Alexander Ausan sitzt auch in der Modernisierungskommission des russischen Präsidenten: „Die Chancen für eine Modernisierung stehen zurzeit nicht sehr gut. Wir sind wohl zum Stillstand verdammt“, meint er. Die von wenigen Interessengruppen dominierte Rohstoffwirtschaft blockiert die Modernisierung, solange der Rubel rollt. Dieser Sektor hat wenig Bedarf an qualifizierten Fachkräften. Die Zukunft beschreibt Ausan mit einem Bild des Schriftstellers Wladimir Sorokin: „Aus Russland wird eine 15-spurige Autobahn, die die Wachstumsregionen China und Europa verbindet. Die Talentierten gehen weg.“
Seit der Revolution 1917 hat Moskau sechs Emigrationswellen erlebt. Jedes Mal zog die aktive geistige Elite ab, die anderswo den Mittelstand stellt. Zurück blieb die paternalistisch gestimmte Mehrheit, die mit wenig zufrieden ist und keine soziopolitischen Forderungen stellt. Sie ist leicht zu führen.
Auffällig ist, dass sich auch die reicheren Nutznießer des Systems nach einer neuen Bleibe umsehen. Die Nachfrage bei Migrations-Consultings hat sich 2011 im Vergleich zum Vorjahr verdreifacht. „Nicht mehr die Yacht an der Riviera, sondern der US-Pass für die Kinder ist das neue Statussymbol“, meint ein Consulting-Mitarbeiter. Diese Kreise möchten für den Notfall gewappnet sein.
Der kann schnell eintreten. Moskaus bekanntester Emigrant in spe ist dessen ehemaliger in Ungnade gefallene Bürgermeister und Miterbauer des Systems Putin, Juri Luschkow. Lettland lehnte seinen Emigrationsantrag ab. Jetzt ist der korrupte Milliardär mit einem Touristenvisum erst einmal nach London entwichen.