: Mit dem Chor durchs kollektive Unbewusste
Die Chorformation „Weißer Rausch“ konfrontiert antinational erzogene Deutsche mit ihrer Unfähigkeit, ihre traditionellen Lieder zu singen. Das geschieht in einer multimedial begleiteten Wanderung im Hochbunker auf dem Hamburger Heiligengeistfeld
Was, verehrte taz-LeserInnen, denken Sie, wenn Sie von einem Chorleiter, der mit seinen Sängern deutsche Volkslieder singt, folgendes Zitat lesen: „Wir suchen die Verschmelzung mit einer Gemeinschaft, woraus etwas entsteht, dass größer ist als die Summe seiner Teile.“ Nun? „Wehret den Anfängen! Brauner Burschenschaftler! Der probt schon für den nächsten Reichsparteitag!“
Solche und ähnliche Assoziationen schießen dem nach 1960 geborenen, bundesdeutsch sozialisierten Linken unweigerlich durch den Kopf. Uns ist der vorauseilende Antifaschismus, für den es früher in Gemeinschaftskunde eine eins mit Sternchen gab, zum Reflex geworden. Das hat gute Gründe, die jedem, der mit der deutschen Geschichte vertraut ist, bekannt sind. Es erzeugt aber auch blinde Flecken in der Selbstwahrnehmung und psychische Blockaden, die das kollektive Erbe einer ganzen Generation zu sein scheinen.
Hier setzt das Projekt „Deutschlandlied“ des Dirigenten Michael Petermann und der Regisseurin Nina Claassen an. An geschichtsträchtigem Ort, dem weithin sichtbaren Weltkriegsbunker auf dem Heiligengeistfeld, schicken Petermann und Claassen ihr Publikum auf eine Reise durch das kollektive Unterbewusste. Wie in einem Initiationsritus führt die Theaterwanderung durch Treppenhäuser und dunkle Bunkergänge, die mit Versatzstücken deutschen Kulturgutes bestückt sind. In vom Chor vorgetragenen Volksliedern, alten Acht-Millimeter-Filmen, Hirschgeweihen und Spitzweg-Bildern begegnen einem dabei jene Ideale und Schimären, die einem entweder eine Gänsehaut oder jenes wollüstig-wehmütige Zusammenkrampfen in der Herzgegend bescheren, an dem Heine seinen Weltschmerz erkannte: „Romantik“, „Innerlichkeit“, „Gemeinschaft“, „Heimat“.
Tief und bedeutungsvoll, aber auch ambivalent, werden diese Dinge erst, wo sie sich mit den Konzepten von „Volk“ und „Nation“ verbinden. Selbst wer sich für einen aufgeklärten Kosmopoliten oder gar für einen vaterlandslosen Gesellen hält, steht in deren Bann: Versuchen Sie es, kehren Sie zum ersten Absatz dieses Artikels zurück und ersetzen sie „deutsche Volkslieder“ durch „Hamburger Seemannslieder“ oder „Gospels“.
Die Idee zu ihrem Projekt kam Petermann und Claassen durch ein Schlüsselerlebnis, wie es viele Deutsche im Ausland hatten. Russen, Franzosen, Engländer singen mit Inbrunst ihr nationales Liedgut, und dann kommt der peinliche Moment, in dem man aufgefordert wird, ebenfalls etwas zu singen. Es schnürt einem die Kehle zu, ein paar Melodiefetzen und die erste Zeilen längst vergessener Gedichte huschen vorüber. Wenn überhaupt krächzt man einen englischen Shanty: „What shall we do with the drunken sailor.“
Unsere Probleme mit dem Singen, das Verschwinden des Singens aus dem Alltag und aus dem Schulunterricht, die Scheu vor dem deutschen Liedgut und eine weit hinter die Nazizeit zurückreichende Erfahrung hängen in einem großen Komplex zusammen – davon ist der Chorleiter und Stimmtrainer Petermann überzeugt. Für Petermann und Claassen ist ihr Projekt also die „Standortbestimmung einer bestimmten Generation“.
Deutsch-Nationales ist ihnen fremd. Sie unterscheiden genau Kollektive, die „gleichzeitig und gleichgerichtet“ sind, von solchen die „gleichgeschaltet“ agieren. In ihrem „Deutschlandlied“ geht es um „einen Weg, wie es auch gehen könnte“ im Umgang mit Traditionen und Gefühlen, von denen man sich, so scheint es, nicht gänzlich ungestraft abschneiden kann. ILJA STEPHAN
Premiere: Donnerstag, 21. 6., 20 Uhr, Medienbunker Heiligengeistfeld, Hamburg