: Nicht Rache, sondern Gerechtigkeit
Ein deutscher und ein italienischer Staatsanwalt diskutieren, wie es sein kann, dass der Hamburger SS-Führer Gerhard Sommer von einem italienischen Gericht verurteilt wurde und ihn der deutsche Staatsanwalt nicht einmal anklagte
Die „Fälle“ liegen mehr als 63 Jahre zurück. Am Montagabend führten sie den Militärstaatsanwalt Marco De Paolis aus La Spezia und den ehemaligen Oberstaatsanwalt Jochen Kuhlmann aus Hamburg zusammen. Im Ziviljustizgebäude der Hansestadt diskutierten sie über die Verfolgung von Massakern der SS in Italien 1944. Mehr als 80 Gäste wollten vor allem wissen, warum in Italien verurteilte SS-Täter in Deutschland nicht angeklagt werden.
Die Staatsanwälte diskutierten, weil der ehemalige SS-Kompanieführer Gerhard Sommer in einer Seniorenresidenz in Hamburg einen beschaulichen Lebensabend verbringt. Dabei hat ihn das Militärgericht La Spezia 2005 zusammen mit neun weiteren SS-Angehörigen wegen eines Massakers in St’Anna di Stazzema zu lebenslanger Haft verurteilt.
In der letzten Stuhlreihe hört Enio Mancini, einer der wenigen Überlebenden des SS-Massakers, aufmerksam zu. Die Hände ineinander gelegt, leicht zitternd, verfolgt er die Debatte zwischen Paolis und Kuhlmann: War die Tötung von 560 Menschen, unter ihnen 142 Kindern, im juristischen Sinne grausam – und damit Mord? Warum kommen das italienische Militärrecht und das deutschen Strafrecht zu unterschiedlichen Einschätzungen?
Paolis hat für die italienische Militärjustiz die Ermittlungen gegen Sommer geleitet. Aus seiner Sicht ist klar: Haben SS-Angehörige bei der „Bandenbekämpfung“ die Grenzen der Humanität verletzt, ist das Tatbestandsmerkmal der Grausamkeit erfüllt. Überdies sei die Verantwortung an dem Ablauf und der Umsetzung des Massakers nachweisbar, was wiederum Gerichtsverfahren und Verurteilungen möglich mache.
Kuhlmann verwies auf die angeblich strengeren Anforderungen des deutschen Strafrechts: Demnach müsse dem Einzelnen eine direkte Tatbeteiligung und subjektive Grausamkeit nachgewiesen werden.
2002 führten Kuhlmanns Ermittlungen zur Verurteilung von Friedrich Engel. Der ehemalige SS-Obersturmbannführer leitete die Tötung von 59 Menschen am Turchino-Pass. Der Bundesgerichtshof (BGH) kassierte das Urteil 2004, weil die Tatbestandsmerkmale für Mord unzureichend berücksichtigt worden seien. Wegen des hohen Alters von Engel erklärte das BGH eine Wiederaufnahme wegen möglicher Verhandlungsunfähigkeit für unmöglich.
Dem von Kuhlmann ausgemachten Unterschied zwischen dem deutschen und dem italienischen Recht widersprach Paolis. Er glaubt, dass die Akten aus La Spezia – die in Stuttgart schon lange vorliegen – hilfreicher seien, als dort zugegeben wird.
„Nicht Rache, Gerechtigkeit“ will Mancini. Die Taten müssten auch in Deutschland verfolgt werden, verlangte er. Viel Hoffnung ließ ihm Kuhlmann nicht. Mit der Entscheidung zu Engel seien die Chancen auf eine Verurteilung gesunken. Unlängst habe die italienische Staatsanwaltschaft beantragt, Sommer auszuliefern oder das italienische Urteil in Deutschland zu vollstrecken. Dass er davonkommen könnte, wollte keiner ausschließen. ANDREAS SPEIT