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Archiv-Artikel

Jetzt spielt das doch mal richtig!

FESTIVAL Bei „Faithful“ stehen die Interpreten von Musik im Vordergrund: Wie groß ist ihr Anteil an der Komposition? Was genau ist Werktreue? Wie viel Improvisation darf sein?

VON TIM CASPAR BOEHME

Das Bild ist schon lustig: Vier klassisch ausgebildete Komponisten und ein Konzertpianist sitzen auf dem Podium, um über die leicht pathetisch formulierte Frage „Wohin neigt sich die Waage: zum Schöpfer oder zum Interpreten?“ zu diskutieren – umringt von Schallplatten des Labels Ostgut Ton, die an den Wänden hängen. Die Runde hat sich am Donnerstag zur Eröffnung des Festivals „Faithful! Treue und Verrat der musikalischen Interpretation“ im Foyer des Clubs Berghain eingefunden. Dabei kommt man nicht umhin, die Alben und Maxis mit Clubmusik von hauseigenen Produzenten irgendwie hinzuzudenken zu dem, was da vorn debattiert wird.

Bei Clubmusik fallen Komponist und Interpret weitgehend zusammen, was auch für einen Großteil der Popmusik gilt. Zum Auftakt des Festivals „Faithful!“ waren Grenzfälle dieser Art kein Thema. Die versammelten Herren Sandeep Bhagwati, Christian von Borries, Johannes Kreidler und Ernstalbrecht Stiebler sind schließlich Komponisten im mehr oder minder herkömmlichen Sinne, und Sebastian Berweck ist ein auf Neue Musik spezialisierter Pianist. Stiebler ging als Einziger indirekt auf die hinter ihm ausgestellte Musik ein, als er den Avantgardisten Karlheinz Stockhausen zitierte: „Ich schreibe lieber elektronische Musik, dann brauche ich mit den Leuten nicht zu diskutieren.“

Worum geht es bei „Faithful!“? Das Festival ist um den Begriff der Werktreue herumgebastelt und die Fragen, die dieser mit sich bringt: Wenn jemand Noten schreibt und andere diese Noten spielen, was genau tun die Beteiligten dann? Was schreibt der Komponist vor, wie viel Deutungsfreiheit lässt er? Wann kann man von „richtigen“ und „falschen“ Interpretationen sprechen, wenn überhaupt?

„Treue und Verrat der musikalischen Interpretation“ klingt nach Provokation, und Christian von Borries gab sich als herausgefordert zu erkennen mit dem Hinweis, dass es sich bei „Treue“ und „Verrat“ um moralische Kategorien handele. In außermoralischer Hinsicht merkte er an: „Man kann anhand von Interpretationen etwas über die Zeit, in der sie stattfinden, ablesen.“ Heute etwa werde Wert auf Objektivität gelegt, wobei die Frage sei, ob eine „objektive“ Interpretation überhaupt möglich ist.

Für den Komponisten Johannes Kreidler hingegen gilt die griffige Formel: „Wer heute noch Beethoven richtig spielt, spielt ihn falsch.“ Die Interpretation müsse mit wachsendem zeitlichem Abstand immer freier werden. Es gebe genug „richtige“ Interpretationen auf Tonträgern, mit denen könne man ja vorliebnehmen, wenn einem an Werktreue gelegen sei. Damit verwies Kreidler auf ein Phänomen, das in der Debatte immer wieder auftauchte: der Einfluss von technischer Reproduktion auf die Interpretation und seine Rolle. Wobei er in seinem rhetorisch eingängigen Credo, das einen Teil der Interpretation an historische Aufnahmen delegiert, einen Aspekt ignorierte, an den Stiebler erinnerte: den Raum, in dem die Musik erklingt. Dieser, so Stiebler, werde von Interpreten oft vollständig vernachlässigt. So würden Pianisten in der Regel immer im selben Tempo spielen, was falsch sei, da jeder Raum andere akustische Anforderungen stelle.

Das Verhältnis von Improvisation und Komposition wiederum bestimmt die Werke von Sandeep Bhagwati, der eine klare Trennung von beiden ablehnt und nur noch „Komprovisationen“ schreibt, in denen eine „mitschöpferische Leistung“ des Interpreten verlangt sei, einschließlich Hinweisen an die Interpreten, wie sie zu üben und bestimmte Partien selbst zu komponieren haben. Was den Pianisten Berweck zur Gegenfrage reizte: „Wenn mir vorgeschrieben wird, was ich üben soll – wie viel steckt dann noch von mir in dem Stück?“

Wie in der Diskussion bleiben auch im Programm von „Faithful!“ einige Widersprüche offen. Die Sache mit der Werktreue zum Beispiel möchte man praktisch überprüfen und lässt dasselbe Werk von verschiedenen Ensembles hintereinander spielen. Zumindest dem Konzept nach: Beim Eröffnungskonzert hätte das kalifornische Künstlerkollektiv Los Angeles Free Music Society (LAFMS) zunächst eine Auswahl eigener Stücke vortragen sollen, gefolgt von einer Wiedergabe desselben Materials durch Berliner Improv-Musiker. Stattdessen standen das LAFMS von Anfang an mit Berliner Echtzeitmusikern wie Liz Albee, Burkhard Beins und Andrea Neumann auf der Bühne, um gemeinsam die Musik der Kalifornier darzubieten. Vergleichen ließ sich da wenig.

Philosophisch interessant wird es am Donnerstag. Die Frage der Interpretation wird dann ganz grundsätzlich gestellt, wenn die Musiker des Logothetis Ensemble und das Berliner Improvisationsensemble die grafischen Notationen des Komponisten Anestis Logothetis aufführen. Die haben keine konventionellen Noten, sondern gleichen abstrakten Gemälden. Vor der Frage, wie man das „richtig“ spielt, kommt so erst einmal die Frage: Wie liest man das überhaupt?

■ „Faithful! Treue und Verrat der musikalischen Interpretation“, verschiedene Orte, bis 23. November. www.faithful-festival.de