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Archiv-Artikel

Dem Pitt geht es gut

Von einem, der auszog, die Freiheit zu suchen. Und der sie nach 40 Jahren Wanderleben, wenigstens für kurze Zeit, direkt vor der Haustür gefunden hat. Nahe seinem Geburtsort Bieringen im Jagsttal. Die Geschichte des Landstreichers Peter Schuhmacher. Ein Mann, den es immer wieder hinauszieht

von Daniel Stahl

Als man Peter Schuhmacher mitteilt, dass er eigentlich tot ist, plant er gerade einen Neuanfang: Er hat es im August 2002 geschafft, weniger zu trinken, er will endgültig weg von der Straße. Er hat sich bei der Obdachlosenhilfe im hohenlohischen Künzelsau gemeldet und Pläne gemacht, sesshaft zu werden, in der Nähe seines Heimatorts Bieringen. Er ist 54 Jahre alt und will zurück. In seine Heimat. Peter war jahrelang nur auf Durchreise, schon oft wäre er gerne nach Bieringen zurückgekehrt. Im August 2002 ist er diesem Traum ganz nahe, als ihm der Tod einen üblen Streich spielt. Ein Polizist hatte eine Leiche mit Peters Ausweis in der Tasche gefunden. Den hatte er wohl irgendwann in seinem Wanderleben verloren.

Die Todesnachricht platzt wie eine Bombe in Peters Heimatort Bieringen, wo ihn alle Pitt nennen und fast alle seine Geschichte kennen. Schon gehört, unser Pitt ist gestorben, erzählen sie sich auf dem Sportplatz oder im kleinen Dorfladen. Sie halten in der Kirche St. Kilian eine Messe für ihren Pitt. Der hört erst ein paar Tage später davon. „Mir haben sich sofort die Haare gesträubt“, sagt er und streicht über seine Unterarme, als wollte er die Erinnerung abschütteln. Er bekommt bis heute Gänsehaut, wenn er daran denkt. Dass sie ihn „als Lebendigen begraben“ haben, wie er sagt, ausgerechnet in seinem Bieringen, ausgerechnet in dem Moment, als er wieder zurückkehren wollte, das wirft ihn aus der Bahn. Peter Schuhmacher trinkt ein paar Bier zu viel, wie so oft, und taucht ab. Mal wieder.

O. f. W., ohne festen Wohnsitz, stand fast 40 Jahre in seinem Pass. All die Jahre versucht der Mann aus dem Hohenlohischen immer wieder, von der Straße und vom Alkohol wegzukommen. Er will zurück und in der Nähe der großen Linde wohnen, die sein Großvater dort gepflanzt hat. Die Geschichte von Peter Schuhmacher ist eine Geschichte von vielen Neustarts und von geduldigen Helfern. Und mit einem ungewöhnlichen Ende. Aber der Reihe nach.

Mit 5 Mark in der Tasche auf Wanderschaft gegangen

Heute sitzt Peter Schuhmacher am Küchentisch in seiner Wohnung, in der er seit sechs Jahren lebt. 63 Jahre ist er jetzt alt. Er hat ein paar Schrammen davongetragen vom Leben auf der Straße. Auf seiner Halbglatze, ein Stück über der Schläfe, kann man eine tiefe Narbe erkennen. Andere Narben sieht man nicht. Es geht ihm gut. Wenn er von früher erzählt, stockt er manchmal, als ob es ihn schmerzte, sich zu erinnern. Dann wechselt er das Thema. Lieber erzählt er von den guten Erlebnissen. Öfter setzt auch die Erinnerung aus, der Alkohol hüllt manches in einen gütigen Schleier. Aber wie es angefangen hat, daran erinnert er sich noch gut.

5 Mark und 20 Pfennige hat Peter Schuhmacher in der Tasche, als er 1966 sein Heimatdorf Bieringen verlässt. Da ist er noch keine 20 Jahre alt. Peters Mutter stirbt früh, die Schwestern kümmern sich um den Jüngsten der neun Geschwister. Er ist ein ruhiger Schüler. Und er wächst mit einem angeborenen Klumpfuß auf. Der Vater schimpft, weil das Kind immer teure Schuhe braucht. Mit dem großen, strengen Hausherrn gibt es auch sonst viel Streit. Der Junge will nicht auf dem Hof der Familie schuften, keine Äcker pflügen. Peter will lieber mit den anderen Jungen bolzen, statt Kühe zu melken. Er möchte sein eigener Herr sein. „Ich hatte nie Freiheit“, sagt er, und da schwingt viel Sehnsucht mit. Eine Schreinerlehre macht er fertig. Dann verkündet er seinen Klassenkameraden: „Ich geh unter die Brücke.“ Eine Entscheidung, die sein Leben bestimmen wird. „Es hat zu Hause nicht mehr gestimmt, also bin ich ab.“

Das Leben auf Wanderschaft beherrscht Peter bald. Anfangs sucht er regelmäßige Arbeit, nach ein paar Jahren nur noch Gelegenheitsjobs. Er arbeitet als Schreiner, als Glasschneider oder auf Baustellen. Je nachdem, wo es Arbeit für ihn gibt. Wenn doch Geld oder Essen fehlt, klingelt er an Türen und bettelt. „Das lernt man automatisch“, sagt er. Er klingt stolz, als er die Tricks aufzählt, die er gelernt hat. Als wäre Vagabundieren ein Handwerk. Wenn er sich bis elf Uhr bei einem Sozialamt meldet, kann er den Tagessatz abholen. Mitte der 1990er sind das 8,50 Mark in bar und 8,50 Mark in Gutscheinen für Lebensmittel. Peter weiß auch genau, wo es Häuser für Obdachlose gibt.

Einmal kommt Peter auf der Durchreise zurück nach Bieringen. Er schleicht sich in die Scheune seines Vaters und schläft im Stroh. Morgens klingelt er, der Vater hält ihn für einen Vertreter. Er will ihn wegschicken, bevor er seinen Sohn erkennt. Wie lange Peter zu Hause bleibt, erzählt er nicht. Er stockt und wechselt das Thema. Lange kann er nicht geblieben sein. Er muss weiter.

Manchmal trampt er jetzt. Ein Lkw setzt ihn zum Beispiel in Paris ab. „Ich hab schon vor Notre Dame gebettelt“, sagt er und grinst schelmisch. Er gibt gern den Weltenbummler. Doch es gibt einen Punkt auf der Landkarte, um den Peter kreist wie eine Motte ums Licht: Selten ist der Freiheitssuchende so richtig weit weg von Bieringen. Das 1.200-Seelen-Dorf ist wie ein Magnet, der ihn anzieht und doch immer wieder abstößt. Wenn er irgendwo unter einer Brücke seine Schuhe auszieht und in seinen Schlafsack kriecht, sieht er die Wiesen und Feldwege, auf denen er mit dem Auto eines Jugendfreundes fahren gelernt hat. Peter denkt immer öfter an Bieringen.

Im Mai 1980 stirbt der Vater, der elterliche Hof wird versteigert. Als die neuen Besitzer das Haus im Winter besichtigen, knistert in der Küche ein Feuerchen. Pitt, der verlorene Sohn, ist zurückgekommen. Er hat ein Loch in die Wand geschlagen, damit auch der Raum daneben warm bleibt. Nur ein Bett steht noch da, sonst gibt es keine Möbel mehr. Peter hat sie verheizt. Es war wohl die einzige Wärme, die es in seinem Elternhaus noch zu holen gab. Viele Leute in Bieringen kennen den Pitt noch gut, auch wenn er inzwischen einen langen Bart und verfilzte Haare trägt. Manche haben Mitleid mit ihm. Dem fehlt der Halt, weil er ohne Mutter aufgewachsen ist, sagen viele. Sie helfen ihm, jemand bringt ihm abends oft ein Vesper vorbei. Und bis sein einstiges Elternhaus umgebaut wird, darf er bleiben.

Vielleicht hat Pitt damals gedacht, er kann nach Bieringen zurückkehren und die verlorene Jugend nachholen. Doch den Ort, an den er nachts in seinem Schlafsack gedacht hat, wenn das Bier in den Dosen gefroren ist, gibt es nicht mehr. Vielleicht hat es diesen Ort nur in seiner Vorstellung gegeben. Der Vater ist tot, sein Elternhaus wird abgerissen, die Geschwister meiden ihn. „Mir ist mein Zuhause flöten gegangen“, sagt er heute. Pitt schnappt seinen Schlafsack und verschwindet wieder.

Einen Schlafsack besitzt Peter Schuhmacher heute nicht mehr. Seit ein paar Jahren hat er ein eigenes Bett, es ist jeden Abend dasselbe, in der Ecke seiner Wohnung in Jagstberg, ein paar Ortschaften von Bieringen entfernt. Wenn Besuch kommt, lüftet Peter seine Wohnung und stellt eine Flasche Wasser auf den Küchentisch. Sein Klassenkamerad Otto Hüber hat Peter schon ein paar Mal hier besucht. Andere verlassen sich darauf, dass Peter zu ihnen kommt. Bieringen ist nur gute 20 Kilometer von seiner Wohnung entfernt. Hin und wieder taucht Peter jetzt dort auf, lässt sich beim Frisör die Haare schneiden und geht durch den Ort.

Das wohlige Gefühl, jetzt im eigenen Bett zu liegen

Peter erzählt seine Geschichte mit einer Stimme, die vom Bier und den Nächten im Freien kehlig geworden ist. Manchmal wache er nachts verschwitzt auf, sagt er, weil ihn im Traum einer mit dem Schraubenschlüssel erschlagen will. Wie damals in Oggersheim. Acht Wochen lang lag er damals im Koma. Ein Albtraum. „Aber dann merke ich, dass ich in meinem Bett liege, und bin froh“, sagt Peter und klatscht in die Hände.

Unfreiwillig heuert Peter in den 80er-Jahren auf einem Schiff an. Er spricht nicht gerne davon. Jemand hat ihn abgefüllt und an Bord geschleppt. In diesen Momenten auf dem Schiff denkt er oft an Bieringen. Vielleicht sind ihm die Welt und das Meer zu groß. Vielleicht würden ihm die Jagst und der Erlenbach reichen, an denen er aufgewachsen ist. Peter schleicht in geliehenen Klamotten von Bord.

An einem Werktag Anfang 1989 klingelt das Telefon in der Ortschaftsverwaltung in Bieringen. Von einer Einrichtung für Obdachlose ruft ein gewisser Peter Schuhmacher an. Der Pitt hat keine richtige Anlaufstelle mehr in Bieringen. Er war zu lange weg, er schämt sich vor seinen Freunden. Aber die Sehnsucht nach Bieringen ist groß. Der Ortsvorsteher nimmt den Hörer ab: „Pitt, willst du wieder kommen?“ Pitt will. Und die Bieringer nehmen ihn auf wie einen verlorenen Sohn.

Elfriede Gramling ist zu der Zeit Sekretärin in der Ortschaftsverwaltung. Als sie den Pitt trifft, ist er ihr sofort sympathisch. Er ist freundlich, immer höflich. Sie will ihm helfen. „Der Pitt ist ein Bieringer und damit basta“, sagt sie. In den nächsten Monaten organisiert sie einen Entzug und dann eine Wohnung. Ein Lehrer gibt für Pitts neue Unterkunft ein altes Bett, die Landjugend besorgt Schränke. „Wir haben es ihm richtig schön eingerichtet“, sagt Elfriede Gramling. Manche schenken dem Heimkehrer Klamotten, andere helfen ihm mit Geld aus. Im Dorfladen gibt es ein Konto für den Pitt, auf das eine anonyme Spenderin regelmäßig 20 Mark einzahlt.

Viele Bieringer laden den Pitt in diesen Monaten zum Essen ein. Bis heute sagen die Leute, dass sie selten so gelacht haben wie an jenen Abenden, als der Pitt leidenschaftlich gestikulierend von seinen Reisen erzählte. Er nahm sie mit nach Notre Dame, nach Hamburg, nach Marseille und auf das Schiff. Seinen Zuhörern muss das kleine Bieringen an diesen Abenden furchtbar eng erschienen sein. Sie bewunderten diesen Mann, der nur mit einem Rucksack, einer Plastiktüte und zwei Paar orthopädischen Schuhen durch die Gegend gezogen ist und so viel gesehen und so viel zu erzählen hatte. Er brachte die weite Welt in ihre Wohnzimmer. Während sie geschuftet haben, Häuser gebaut, Kinder bekommen und jedes Jahr mit dem Sportverein einen Ausflug nach Nürnberg oder in die Pfalz gemacht haben, hat Pitt die Welt gesehen. Davon erzählt er gerne. Nur über das harte Leben auf der Straße erzählt er nichts.

Nach einigen Monaten fängt er wieder an zu trinken. Er schämt sich vor den Menschen, die ihm geholfen haben. Bis heute fühlt er sich schuldig, weil er auf der Straße gelandet ist, Alkoholiker ist. Pitt verschwindet wieder aus Bieringen. „Ich weiß bis jetzt nicht, warum ich damals wieder los bin“, sagt er heute. Aber wenn andere ihm helfen, damit kann er schwer umgehen. „Dann muss ich ab, dann schwitzen die Schuhe schon. Das ist halt ein Problem, wenn man draußen war. Man will sich nicht mehr von anderen führen lassen.“

Die Leute in seinem Dorf mögen den Landstreicher

Und wie reagieren die Menschen, die den Pitt monatelang unterstützt haben? Was macht sein Klassenkamerad Otto Hüber, von dem Pitt sich nicht einmal verabschiedet, dem er nur einen Plastiksack mit geschenkten Klamotten und geliehener Bettwäsche vor die Tür stellt? Bis heute sagt niemand etwas Schlechtes über den Pitt. Die Leute mögen den Landstreicher, der immer wieder zurück nach Bieringen kommt. Er ist immer freundlich, nie ausfallend, amüsant. Und sie haben ihn auch schon in der Bushaltestelle mitten im Ort an der Erlenbachbrücke liegen sehen, kaum ansprechbar. Sie spüren, dass er mit seiner Alkoholsucht und seiner Familiengeschichte kämpft.

Immer wieder taucht Pitt in den Jahren darauf im Ort auf, wie ein Geist. Dann schläft er für ein paar Tage bei Otto Hüber im Hausgang oder übernimmt die Nachtwache im Festzelt am Sportplatz hinter der Jagsttalhalle, wenn er mal wieder rechtzeitig zum Fest des Sportvereins auf der Durchreise ist. Es ist, als ob er sich in Bieringen von seinen Wanderungen erholen könnte.

Am 13. August 2002 weiß Peter S. immer noch nicht, dass er angeblich tot ist. An diesem Tag wendet er sich an die Erlacher Höhe in Künzelsau, eine Einrichtung der Diakonie, die Menschen in Notlagen auffängt, eine knappe halbe Stunde von Bieringen entfernt. Hier ist Peter ein alter Bekannter. Auf drei dicken Aktenmappen steht: „Schuhmacher, Peter Anton, 1. Aufnahme: 29.09.1987“. Darin wiederholen sich immer dieselben Dokumente und Notizen: Peter S. sucht Hilfe, möchte neu anfangen und nach Bieringen zurückkehren. Dann kommen Alkohol und Schuldgefühle dazwischen, und er verschwindet.

Kurz vor seinem 57. Geburtstag klappt es dann doch noch. Mit einem Programm für betreutes Wohnen. Heute kommt er alleine zurecht. Das Trinken hat er meistens unter Kontrolle: „Bei mir findest du keinen Schnaps“, sagt er stolz. Nur ein paar Bierchen trinkt er öfter. Irgendwie ist er angekommen jetzt, nur ein paar Ortschaften von Bieringen entfernt.

Die Wohnung mietet Peter von einem älteren Pfarrerehepaar. Morgens trinkt er manchmal mit seinen Vermietern Kaffee. Und wenn sie Holz machen, hilft er im Wald mit. Peter hat Poster aufgehängt, die Fußballnationalmannschaft, Michael Ballack. Über dem kleinen Herd hängen Fotos. Auf einem ist er mit dem Hund seiner Vermieter zu sehen, um den er sich kümmert – und der sich um Peter kümmert. Der Hund zieht Peter abends wieder zurück nach Hause.

Wenn Peter Schuhmacher einmal richtig beerdigt wird, soll sein Grab in Bieringen sein. Das hat aber noch Zeit. Er möchte noch ein paar Jahre morgens um fünf Uhr aufstehen, mit dem Hund laufen, sich eine Zeitung kaufen und dann sehen, was der Tag bringt. „Sag einen Gruß in Bieringen“, ruft er zum Abschied. „Sag ihnen, dem Pitt geht es gut.“

Nachtrag: Vor wenigen Wochen ist der Pitt wieder verschwunden. Es gab wohl Streit, ob mit den Vermietern oder den Nachbarn, ist unklar. Vielleicht aber haben, wie Pitt es sagen würde, „seine Schuhe wieder zu schwitzen angefangen“.