: Der Bürger als Gutachter
Susanne Eisenmann (46), Kulturbürgermeisterin der Stadt Stuttgart, zählt in der CDU zu den liberalen Geistern. Dass sie nicht immer auf Parteilinie liegt, hat sie 2010 gezeigt, als sie für einen zeitlich begrenzten Baustopp bei S 21 eingetreten ist
von Susanne Eisenmann
Die zentrale Frage, die hinter den Protesten gegen Stuttgart 21 steht, lautet: Kann sich unsere Gesellschaft noch über tief greifende Reformen und große Projekte verständigen? Die Frage ist Teil einer grundlegenden Entwicklung, die seit Längerem festzustellen ist – die Bürger mischen sich ein, nicht nur in Stuttgart, sondern zunehmend allerorts. Und die Politik muss daraus lernen, die Bürger bei wichtigen Themen stärker einzubinden, um somit die notwendige Verständigung herbeizuführen. Die Diskussionen um S 21 haben diese Prozesse zweifelsohne bundesweit auf die politische Tagesordnung gesetzt.
Damit sind wir bei der Bürgergesellschaft. Als Gesellschaftsform ist sie wesentlicher Bestandteil der Demokratie, wonach durch die aktive Teilnahme des Bürgers am öffentlichen Leben ebendieses gestaltet und weiterentwickelt wird. Sich direkt und nachhaltig einzubringen ist richtig und positiv zu bewerten – eigentlich eine demokratische Notwendigkeit.
Neben der Bürgergesellschaft als zentraler Säule einer Demokratie gibt es jedoch noch eine zweite, die gleichfalls zwingend ist für demokratische Prozesse: die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen. Ohne diese Akzeptanz funktioniert auch keine Bürgergesellschaft.
Ändern muss sich künftig deshalb der Weg zu Mehrheitsentscheidungen. Auch die Bürgergesellschaft braucht für ihre Prozesse Legitimation. Persönliche Betroffenheit oder Partikularinteressen sind eben nicht gleichzusetzen mit Legitimation. Sollen die Proteste um Sg21 grundsätzliche Veränderungen hin zur nachhaltigen Partizipation bewirken, muss Legitimation erzeugt werden. Direktdemokratische Elemente sind dabei nur ein Aspekt. Viel wichtiger sind Veränderungen im Ablauf von Planungsprozessen. Sinnvoll wäre es, künftig deshalb verbindliche Verfahren zur Einbindung analog zum Vorgehen von „Planungszellen“ vorzusehen, wie sie Peter C. Dienel entwickelte: Etwa 25 Bürger ab 16 Jahren, ausgewählt nach dem Zufallsprinzip, befassen sich nach einem strikt vorgegebenen Ablauf eine Woche lang – hierfür vom Arbeitgeber freigestellt – mit einer konkreten Aufgabenstellung. Ziel ist die Erstellung eines „Bürgergutachtens“, das die politische Entscheidung dann konkret beeinflusst.
Die zufällige Zusammensetzung dieser Gruppen ist sozial ausgewogen und bindet Bürger ein, die unabhängig von eigenen Interessen sind. So erreicht man Legitimation, ohne die keine politische Bindungskraft erzeugt werden kann. Die auf Basis eines „Bürgergutachtens“ getroffenen Entscheidungen müssen dann aber auch akzeptiert werden.
Nur wenn der Protest gegen S 21 übergeleitet wird in partizipative Verfahren, die durch demokratische und strukturierte Prozesse legitimiert sind, hat der Streit in Stuttgart wirklich Nachhaltiges bewirkt.