: Gegensätzliche Welten
FOTOGRAFIE Mitch Epstein ist aus den USA ins Land seiner Eltern gekommen, um sein eigenes Bild von „Berlin“ zu finden
MITCH EPSTEIN
VON LENNART LABERENZ
Nein, wir beginnen nicht bei den Elefanten, das wäre zu einfach. Die neueste Publikation des US-amerikanischen Fotografen Mitch Epstein heißt „Berlin“, ist zugleich genau das und viel mehr, vor allem aber mehr als das Bild mit den Elefanten. „Das Leben bildet eine Oberfläche, die so tut, als ob sie so sein müsste“, heißt es in Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“, „aber unter ihrer Haut treiben und drängen die Dinge.“ Mitch Epsteins fotografiert Berlin als lakonischer Beobachter der Oberfläche, produziert dabei scharfe Destillate mit surrealer Unterströmung.
Mitch Epstein, geboren 1952 als Sohn eines der größten Möbelhändler in Holyoke, Massachusetts, lässt in seinem „Berlin“-Band die verbauten Fassaden der Stadt und ihre seltsamen Konstellationen sprechen. Ein Paragleiter am Teufelsberg, der auf Wind wartet. In den sowjetischen Realismus des Raumfahrer-Mosaiks hat eine frevelnde Hand das Wort „Sex“ gekratzt.
In vielen Bildern kann man den Fotografen leise und hintersinnig lachen hören. Die kühle Lakonie mag Teil der persönlichen Geschichte sein. Epsteins Eltern überlebten den Holocaust, aber Mitch Epstein war der Erste, der die Familienregel brach, um nach Deutschland zu reisen. Beim Steidl Verlag in Göttingen redigierte er einen Bildband. Dem ersten Besuch folgten weitere. 2008 lud ihn die American Academy für ein halbes Jahr nach Berlin ein. Der Bildband ist ein Resultat dieses Aufenthalts.
Seine Haltung ist aber auch Ergebnis der frühen Auseinandersetzung mit dem Lakonie-König William Eggleston, den Epstein an der New Yorker Hochschule kennenlernte. In Epsteins Arbeiten kreuzen sich zwei Traditionslinien, die eigentlich sauber getrennt operieren: Konzeptionalismus und Dokumentarstil. In etlichen Kompositionen und Bearbeitungen lehnen sich Epsteins Bilder an die farbsaturierten, bunten Welten eines Jeff Wall an. Schon in früheren Arbeiten freute er sich am Surrealen. Doch ist er auch ein Dokumentarist im Stile eines Walker Evans, der sich seine Motive in der Welt außerhalb der Studios besorgt.
Epstein leitet seine in zurückhaltenden Farben ausgeleuchteten Bilder in dem „Berlin“-Band mit der Bemerkung ein, dass die Stadt mit der Wiedervereinigung „neu geboren“ sei. „Und auch wenn sie mit den Fährnissen aller modernen Städte zurechtkommen muss, wurde Berlin Symbol einer Stadt mit einem Gewissen. Die Überbleibsel furchtbarer Geschichten, die ich fand, waren keine Zufälle. Die Berliner haben entschieden, Spuren ihrer schlimmsten Zeiten in Architektur und Landschaft zu belassen. Sie haben verstanden, was ein wesentlich betäubtes Amerika nicht versteht: Reform fußt auf Erinnerung.“
Mitch Epstein ist immer noch US-Amerikaner, und vielleicht fließen ihm derartige Sätze deshalb leichter aus der Feder. Das Pathos wird aber sofort wieder einkassiert. Das erste Bild des Bandes entstand auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee. Der Horizont verliert sich in dichten Baumreihen, moosig und voller Herbstlaub, zwischen den Grabreihen ist es kühl. Im Zentrum steht ein dreibeiniger Arbeitstisch mit aufgeklapptem Rechner.
Die Wirkung zielt darauf ab, den Betrachter selbst nach Musils Treiben und Drängen fragen zu lassen. In einem anderen Bild ragt der Wünsdorfer Bombenbunker wie eine verwitterte Rakete aus dem Boden vorvergangener Zeiten, während das blassgelbe Mehrfamilienhaus schon wieder auf spätere Einförmigkeit und Laminatsauberkeit verweist. Für reine Oberflächen ist Epstein nicht zu haben, der Nachrichtenwert seiner Kompositionen ist irrelevant, Haltungen und der zweite Blick machen den Unterschied.
Und natürlich gibt es noch das Bild mit den Elefanten. Bizarr wird die Aufnahme vor dem Hintergrund einiger, zum Teil bereits hässlich sanierter Plattenbauten. Die genormte Heimeligkeit blickt unverwandt auf die weit gereisten Tiere. Ein treffliches Mitch-Epstein-Bild: gegensätzliche Welten, zufällig ineinandergeschoben und anspruchsvoll zu entziffern.
■ Mitch Epstein: „Berlin“. Steidl Verlag, Göttingen 2011, 72 Seiten, 45 Euro