piwik no script img

Archiv-Artikel

„Er geht und kehrt zurück“

Ryszard Kapuścińskis letztes Buch –anregende „Notizen eines Weltbürgers“

Der große polnische Journalist Ryszard Kapuściński ist nicht gerade für lustige Reportagen bekannt. Doch wenigstens einmal wird der deutsche Leser herzlich lachen, wenn er dessen „Notizen eines Weltbürgers“ liest. Am 18. August 2001 schreibt Kapuściński:

„Abends im Fernsehen ein Volksmusikkonzert aus Deutschland. Singende, lachende, zufriedene Deutsche. Wie viele Sänger, Chöre Tanzensembles, Orchester bei einem solchen Konzert auftreten! Offenbar kommen in Deutschland in jedem Dorf und jeder Kleinstadt die Menschen systematisch zusammen, um zu singen, zu spielen und zu tanzen. Die Deutschen spüren und wissen, dass die Musik integriert, dass sie die Schaffung der Gemeinschaft fördert, lebendiger, starker, beinahe familiär tiefer und dauerhafter Bande.“

Tja, man mag es nicht glauben, dass Kapuściński sich das angesehen hat, was wir reflexhaft sofort wegschalten. Und wie würde er gestaunt haben, wenn er gewusst hätte, dass in Deutschland kaum noch ein Kind oder Jugendlicher auch nur ein einziges Volkslied kennt. Aber so ist das manchmal mit dem Blick auf fremde Kulturen – selbst einem Weltbürger kann ein solch rührend verblüffender Irrtum passieren.

Die „Notizen eines Weltbürgers“ sind tatsächlich Notizen. Aufgesammelte Beobachtungen, kleine Anekdoten, Erinnerungsstichworte – manchmal aus der Vergangenheit des Autors, die meisten aber aus dem neuen Jahrtausend. Es sind auch Stichworte einer Bilanz – und in dieser Bilanz bewegen Kapuściński naturgemäß die gleichen Fragen, die ihn während seines Arbeitslebens bewegt haben: Welche Rolle spielt der Intellektuelle in seinen Gesellschaften? Welche Lehre ziehen wir aus all den bislang mehr oder weniger gescheiterten Gesellschaftsmodellen? So komplex diese Fragen, so kompliziert die Antworten. Nur eines ist ihm klar: Es gibt keine Abkürzung in die Zukunft.

„Ideologische Wege, die in eine Utopie führen, bleiben immer Illusion“, schreibt er, „Ohne Chancen auf Erfolg. Sie können nicht in die Praxis umgesetzt werden.“ Nun, das ist genauso wenig neu wie die Aufgabe, die Kapuściński den Intellektuellen zuschreibt: Sie haben den Medien auf die Finger zu schauen und auf Manipulationen zu achten – als ob er nicht wüsste, wie oft und gern die Intellektuellen mit den Medien gemeinsame Sache machen.

Obwohl man beim Lesen dieses Buchs öfter mal den Eindruck hat, der große Reisende sei müde geworden und resigniert, wenn er sich nach einer Klosterzelle, leeren Wänden, einer Tür, einem Fenster, einem Bett und einem Tisch sehnt – es lohnt sich doch, dem mäandernden Fluss seiner Aufzeichnungen zu folgen. Vielleicht muss man nicht jedem Nebenarm nachgehen und das Buch nicht Seite für Seite lesen, aber hier und dort aufgeschlagen, findet sich immer ein Gedanke, dem man eine Weile nachhängen möchte.

Spannend ist es vor allem dann, wenn der Osteuropäer auf seine Erfahrungen in der Heimat, im Westen und in der Dritten Welt schaut. Da ist er ganz in der Tradition des anderen großen osteuropäischen Denkers, Mircea Eliade, der schon 1952 darauf hinwies, dass nicht etwa die Revolution des Proletariats das wichtigste Phänomen des 20. Jahrhunderts gewesen sei, sondern die Entdeckung des nichteuropäischen Menschen und seiner geistigen Welt. Heute erst fange man an, sich der Noblesse und geistigen Eigenständigkeit dieser Kulturen bewusst zu werden. Eliade schreibt: „Der Dialog mit ihnen scheint mir bedeutsamer für die Zukunft des europäischen Denkens als die geistige Erneuerung, welche die radikale Emanzipation des Proletariats bringen könnte.“

Wer, wenn nicht Kapuściński, sollte ihm recht geben. Und er notiert: „Es ist ein Jahrhundert der Zäsur zwischen der Welt traditioneller Gesellschaften, die seit Jahrhunderten unverändert leben, und der modernen, betriebsamen Massengesellschaft, global und abgeschnitten von ihren Wurzeln, die in fiebrigen, unablässigen Veränderungen lebt. Die wichtigste Frage im 21. Jahrhundert lautet nach meiner Ansicht: Was kann man mit den Menschen tun? Nicht, wie kann man sie ernähren, Schulen und Spitäler für sie bauen, sondern: Was kann man mit ihnen tun? Vor allem, wie sie beschäftigen? Es hat sich nämlich herausgestellt – und das ist ein unerklärliches Paradoxon –, dass es leichter ist, die Menschen zu ernähren, als eine Beschäftigung für sie zu finden!“

Der Regisseur Andrzej Wajda sagte über den Landsmann: „Kapuściński ist für mich die Verkörperung des freien Menschen. Er geht und kehrt zurück, erzählt ein paar Geschichten und verschwindet.“ Kapuściński ist Anfang diesen Jahres von uns gegangen, aber nicht verschwunden. RENÉE ZUCKER

Ryszard Kapuściński: „Notizen eines Weltbürgers“. Aus dem Polnischen von Martin Pollack, Eichborn Berlin, Berlin 2007, 304 Seiten, 19,90 Euro