: Auf getrennten Schulbänken
Auch die NRW-CDU fordert jetzt getrennten Unterricht von Mädchen und Jungen in einigen Fächern – denn vor allem letztere seien die Verlierer. Ein landesweites Konzept fehlt bislang aber
VON M. BUNJES, A. JOERES UND N. WIESMANN
Thorsten Friedrichs spricht über Penisgrößen, Pornofilme und Mädchen. Der Dortmunder Sozialarbeiter macht Biologieunterricht an der Dortmunder Heinrich-Böll-Gesamtschule. Vor ihm sitzt allerdings nur die halbe Klasse. Mädchen haben keinen Zutritt, denn ohne sie lernen die Jungen mehr über Sexualität. „Gerade bei dem Thema haben Jungen ein Rollenfindungsproblem“, sagt Friedrichs. „Weil sie sich vor den Mädchen profilieren wollen, stellen sie im gemeinsamen Biologieunterricht nicht die Fragen, die sie bewegen.“ Stattdessen wiederholen sie männliche Klischees. Sie wollen dann „stärker, schneller, aggressiver“ sein, erklärt der Sozialarbeiter das Verhalten. Klappt das nicht, entsteht Frust.
Die CDU in NRW will den Dortmunder Ansatz fördern. Jungen würden tendenziell zu den Bildungsverlierern, sagt ihr schulpolitischer Sprecher Bernhard Recker. Es bestünde ein dringender Handlungsbedarf bei der Förderung von Jungen. „Wir brauchen die Option, Jungen und Mädchen in einigen Unterrichtsstunden getrennt zu unterrichten.“
Grundsätzlich ermöglicht das Landesgesetz schon jetzt allen Schulen, ihren Unterricht zu trennen. Wie viele diese Möglichkeit nutzen, kann das Schulministerium allerdings nicht sagen. Ein Konzept, das Mädchen und Jungen zugute kommt kann es auch nicht vorweisen. Die Gefahr besteht, dass je nach ErziehrIn die Stereotype noch verstärkt werden können. So sagt ein Sprecher des Ministeriums, Jungen müssten deswegen besonders gefördert werden, weil sie einen angeborenen Drang zur Bewegung hätten.
Sandro Dell‘Anna, Geschäftsführer der Landesarbeitsgemeinschaft Jungenförderung, warnt: „Der getrennte Unterricht darf nicht die Klischees verstärken, dass Jungen von Natur aus Mathegenies sind und Mädchen ein angeborenes Sprachtalent haben.“ Trotzdem findet er es wichtig, dass vorhandene Differenzen erkannt werden und sensibel damit umgegangen wird. „Das muss schon in der Kita anfangen“, sagt er. Daneben dürfe man nicht vergessen, den Anteil von männlichen Erziehern, Tagesvätern und Grundschullehrern zu erhöhen. „Die Jungs brauchen Vorbilder“, so Dell‘Anna.
Der Dortmunder Friedrichs will andere Rollenbilder vermitteln. Nicht nur in der Sexualpädagogik versucht die Dortmunder Gesamtschule, besonders auf die männlichen Schüler zu achten. So werden zum Beispiel im Deutschunterricht Bücher gesucht, die auch die Jungen interessieren. Denn seit der Pisa-Studie steht fest: Jungen sind die Verlierer des Bildungssystems. Sie lesen schlechter, prügeln häufiger, erreichen niedrigere Bildungsabschlüsse als die Mädchen. 60 Prozent der SchülerInnen an nordrhein-westfälischen Haupt- und Förderschulen sind Jungen, 40 Prozent Mädchen.
Das Problem der Jungen sind die gesellschaftlichen Vorurteile ihnen gegenüber, sagt Sportdidaktiker und Jungenforscher Nils Neuber von der Universität Münster. „Die Jungen wissen nicht, was von einem Mann erwartet wird und es wird ihnen in der Schule nicht dabei geholfen“, sagt Neuber. Die Folge: Die Jungen steigen aus, erleben mehr negative Kritik. „Ihnen wird zum Beispiel seltener zugetraut, Verantwortung zu übernehmen oder in einer Gruppe zu arbeiten“, sagt Neuber. Deshalb werden Jungen nicht so oft gefragt, jüngere Schüler oder Tiere zu betreuen.
Auch der unterschiedliche Entwicklungsstand würde nicht angemessen berücksichtigt. „Wenn in der siebten Klasse mittelalterliche Liebeslyrik durchgenommen wird, verstehen die Jungen das Thema noch gar nicht“, sagt Neuber. Die Lehrer müssten sensibilisiert werden.
Ein Problem: Je jünger die Kinder sind, desto häufiger werden sie ausschließlich von Frauen erzogen. Zwei Prozent der Erzieher im Kindergarten sind männlich, später in der Grundschule sind es knappe elf Prozent. „Das männliche Geschlecht ist immer das andere“, sagt Neuber. Und im Gegensatz zu den Mädchen ist für das männliche Geschlecht einiges Tabu: Mädchen können Karate oder Fußball lernen, Jungen beim Tanzen oder Voltigieren sind zutiefst unmännlich. „Wir erwarten Männlichkeit ohne sie unseren Jungen zu zeigen“, fasst Neuber zusammen.
An der Dortmunder Gesamtschule wird das seit zwei Jahren verändert. „Wir machen regelmäßig Informationsveranstaltungen für unsere Lehrer“, sagt Michael Jütte, didaktischer Leiter der Schule. „Und wir versuchen immer neue Freiräume für die Jungen zu schaffen.“ Zusätzliches Geld erhält die Schule dafür nicht – obwohl die Geschlechterförderung im Schulgesetz verankert. Sozialarbeiter Thorsten Friedrichs sitzt auf einer Lehrerstelle, die an anderer Stelle fehlt. „Alle sollen Jungen fördern, aber es soll nichts kosten“, sagt Jütte. „Für uns ist es trotzdem eine Priorität.“