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Archiv-Artikel

„Es ist ein vergessenes Thema“

NGO Chris Nash, Direktor des „European Network on Statelessness“ (ENS), fordert, ein Verfahren zu etablieren, um festzustellen, wer staatenlos ist. Eine 50 Jahre alte UNO-Konvention müsse endlich anerkannt werden

Chris Nash

■ 40, ist Direktor des „European Network on Statelessness“ (ENS) in London. Der Anwalt arbeitet seit mehr als 16 Jahren im Bereich Asyl- und Flüchtlingspolitik.

taz: Herr Nash, wie viele Staatenlose gibt es?

Chris Nash: Es ist sehr schwer, die Zahl exakt zu beziffern. Das liegt unter anderem daran, dass viele Länder in Europa überhaupt kein klares Verfahren haben, um Staatenlosigkeit festzustellen. Davon abgesehen schätzt das UNO-Flüchtlingshilfswerk, dass es etwa 10 Millionen weltweit gibt. Wenn man sich diese Zahlen anschaut, ist es erstaunlich, wie wenig Aufmerksamkeit Staatenlosigkeit in der Vergangenheit gewidmet wurde. Es ist wirklich ein vergessenes Thema.

Was für Auswirkungen hat Staatenlosigkeit auf das Leben eines Menschen?

Das hängt sehr vom Einzelfall ab. Was uns begegnet: Staatenlose werden inhaftiert, während ein Land ohne Erfolg versucht, sie abzuschieben. Sie können nicht abgeschoben werden, weil es kein Zielland gibt, das sie aufnehmen muss. Sie sind ja staatenlos. Selbst wenn sie sich frei bewegen können, stehen Staatenlose oftmals ratlos vor ihrer Lage. Sie sind wie gelähmt, kommen mit ihrem Leben nicht weiter, weil sie Probleme haben, eine Aufenthaltsgenehmigung oder einen Ausweis zu bekommen. Einige von ihnen bekommen nicht mal einen Bibliotheksausweis und erst recht keinen Führerschein, sie haben Schwierigkeiten, wenn sie heiraten oder einen Job annehmen wollen. Sie stecken wortwörtlich fest.

Das wohl populärste Beispiel für Staatenlosigkeit ist der Film „Terminal“. Viktor Navorski – gespielt von Tom Hanks – strandet an einem Flughafen, weil sich sein fiktives Heimatland Krakosien aufgelöst hat. Das klingt nach Hollywood – wie kommt denn in der Realität Staatenlosigkeit zustande?

Es gibt viele verschiedene Gründe. Uns begegnen große Gruppen von Staatenlosen, die ihre Nationalität verloren haben, zum Beispiel durch die Auflösung von Jugoslawien oder der Sowjetunion. Sie haben sich beispielsweise nicht rechtzeitig für die Einbürgerung in den neu entstandenen Staaten registriert, oder sie wurden überhaupt nicht auf diese Notwendigkeit hingewiesen. Wenn wir in der Geschichte weiter zurückblicken, haben auch in Europa oftmals diktatorische Regime Staatsbürgerschaft als Machtmittel eingesetzt. Das war insbesondere im Dritten Reich, aber auch in den Militärdiktaturen der Fall.

Und heutzutage?

Selbst heute, im 21. Jahrhundert, werden Kinder staatenlos geboren. Auch dafür gibt es verschiedene Gründe. In Westeuropa sind es oftmals Fehler in nationalen Gesetzen, zum Beispiel wenn Elternteile staatenlos sind oder ihre Staatsangehörigkeit ungeklärt ist. In Südosteuropa ist oftmals die Registrierung nach der Geburt ein Problem, was dazu führen kann, dass Kinder nicht ohne weiteres die Staatsangehörigkeit ihres Geburtslandes annehmen können. Zum Teil wird Staatenlosigkeit praktisch vererbt, zum Beispiel in Lettland oder Estland, wo große Gruppen einer russischen Minderheit staatenlos sind und auch ihre Kinder unter bestimmten Umständen staatenlos bleiben.

Staaten können selbst über die Verleihung der Staatsangehörigkeit entscheiden – was können sie tun, um Staatenlosigkeit zu verhindern?

Sie müssen die Staatenlosen-Konventionen der UNO von 1954 und 1961 anerkennen die Grundlagen zum Schutz und zur Reduzierung von Staatenlosigkeit bieten. Im Moment haben viele Staaten auch in der westlichen Welt diesen Schritt nicht getan. Und dann müssen sie natürlich ihre nationalen Gesetze entsprechend anpassen. Sie sollten ein Verfahren etablieren, um festzustellen, wer staatenlos ist – und diesen Menschen dann die Normalisierung ihres Status ermöglichen. Das ist ein zentraler Punkt. Im Vergleich: Jeder würde es als absurd ansehen, wenn Staaten kein Asylverfahren hätten. Das Gleiche sollte für Staatenlosigkeit gelten.

In Deutschland gibt es kein eigenes Verfahren – aber Staatenlosigkeit kann durch andere Verwaltungsverfahren festgestellt werden, beispielsweise den Antrag für einen Reisepass. Wozu braucht es eine eigene Vorschrift für Staatenlose?

Was ein Feststellungsverfahren für Staatenlosigkeit im Kern ermöglicht: Es erlaubt Staaten, für Menschen in ihrem Land eine Lösung zu finden, die sie nicht abschieben können und die ja das Land oftmals auch gar nicht verlassen können. Es ist für alle besser, wenn diese Menschen ihr Leben weiterführen. Aber viele Staaten zögern, was aus meiner Sicht zum Teil an mangelnder Aufmerksamkeit für das Thema liegt. Außerdem habe ich gehört, dass sich Staaten Sorgen darüber machen, neue Regelungen oder Gesetzte könnten mehr Staatenlose ermutigen, in ihr Land zu kommen. In den Ländern, die ein eindeutiges Feststellungsverfahren haben – das sind in Europa zurzeit nur acht – gibt es dafür allerdings keine Hinweise.

INTERVIEW: URS SPINDLER