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Archiv-Artikel

MACHEN ES SICH LINKE HEUTE HINTER GRÜNDERZEITFASSADEN GEMÜTLICH? 102 Zeilen Angst

MATTHIAS LOHRE

Als ich die Überschrift las, wollte ich zunächst nicht weiterlesen: „Die Linke ist konservativ geworden.“ Die These hatte ich so häufig gehört, dass ich nichts Neues vermutete. Doch als ich das Gespräch mit der Cornelia Koppetsch weiterlas, wurde mir klar: Über etwas Wichtiges wird in der Debatte über „Bionade-Biedermeier“, „Neue Bürgerlichkeit“ und „Linksspießer“ selten, und wenn, dann abfällig gesprochen: Angst.

Koppetsch, eine Soziologie-Professorin an der Uni Darmstadt, redete im Zeit-Interview über ihr Buch „Die Wiederkehr der Konformität“: „Es gibt eine Sehnsucht nach konservativen Werten, die auch die urbane Boheme ergriffen hat.“ Da fühlte ich mich natürlich nicht angesprochen. Schließlich schließt sich, wer sagt, er gehöre zu den Coolen, dadurch von ihnen aus.

„Dieselben Milieus“, sagte Koppetsch, „die einmal mit alternativen Lebensentwürfen experimentierten, konzentrieren sich heute auf Absicherung, Statuserhalt und Angleichung an die vorgegebenen Strukturen.“ Besonders deutlich werde das in „Szenevierteln wie dem Schanzenviertel in Hamburg oder Prenzlauer Berg, Schöneberg und Kreuzberg in Berlin.“ Wer im Jahr 2014 Prenzlauer Berg „Szeneviertel“ nennt, dachte ich, muss schon aus Darmstadt stammen. Der Stadtteil geht schließlich schon so lange vor die Hunde, wie ich dort wohne.

Dann aber folgten die entscheidenden Sätze: „Früher waren das Hochburgen antibürgerlicher Lebensentwürfe, heute sind es stinkreiche, konsumorientierte Stadtteile. Man konsumiert mit seiner geballten Kaufkraft noch linksromantisch, man sitzt in Szenecafés und macht es sich hinter Gründerzeitfassaden gemütlich, hat aber jeden Begriff politischen Handelns verloren.“ Machen es sich also die Milieus, die traditionell linkem Gedankengut nahestanden, heute „gemütlich“? Was für ein hämisches wie unpassendes Wort. In Koppetschs Lesart zähle ich zu den „Kreativarbeitern“, die immerzu flexibel sein müssen. „Herausgelöst aus dem Korsett der Institutionen, hat das Milieu der Kreativarbeiter seinem gesellschaftlichen Heimat- und Identitätsverlust wenig entgegenzusetzen.“ Der permanent bedrohte Status muss irgendwie beglaubigt werden. Das Wohnen im „richtigen“ Viertel gilt da als Beleg der Zugehörigkeit. Doch wer zugibt, von solcherlei Angst getrieben zu sein, bricht die Spielregeln. Denn Angst ist ansteckend.

Aber ja: Ich habe Angst. Angst, keine Aufträge mehr zu bekommen. Angst, Aufträge aus Arbeitsüberlastung ablehnen zu müssen. Angst, bis zur Rente immerzu dasselbe machen zu müssen. Angst, bis zur Rente immerzu etwas Neues machen zu müssen. Angst, keine Rente zu bekommen. Das ist irrational. Aber so ist Angst nun mal.

DIE FÜNFTAGEVORSCHAU | KOLUMNE@TAZ.DE

DonnerstagMargarete Stokowski Luft und Liebe Freitag Jürn Kruse Fernsehen Montag Barbara Dribbusch Später Dienstag Besser Deniz Yücel Mittwoch Martin Reichert Erwachsen

Die Konservativwerdung ist meiner Vermutung nach in vielen Fällen ein Versuch, diese Angst zu bannen. Rituale und Symbole beruhigen. Zur Schau gestellte Gemütlichkeit hinter Gründerzeitfassaden ist womöglich genau das: bloße Schau.

Inszenierungszwang und Angstverdrängung erschöpfen. Auch mich, ich kann das bloß nicht so zeigen. Aber keine Angst: Ich arbeite dran.