: Ihrer Kehle entsteigen die Verse wie Donnergrollen
AVIGNON Jeanne Moreaus Stimme ist hinreißend, Étienne Dahos Gesang zu süß. Gemeinsam bieten sie Jean Genets Langpoem „Der zum Tode Verurteilte“ dar
Einen Moment meint man, die nahezu 2.000 Menschen im Papstpalast hielten den Atem an. „Ja, sie ist es tatsächlich.“ Die Musiker haben schon Platz genommen, da kommt sie langsam nach vorne, etwas unsicher und als müsse sie jeden Schritt erst finden. Steht sie dann aber in ihrem weißen Hosenanzug an der Rampe und hält das Mikro wie ein Champagnerglas, meint man, sie könne mit den Zuschauern machen, was sie will: die Moreau, die nur für eine Vorstellung nach Avignon gekommen ist, um sich während des Theaterfestivals Genet zu widmen, diesem heiligen Scheusal, dem Sartre den Ehrentitel „Saint Genet“ verpasste und den Jeanne Moreau so verehrt, wie die Franzosen sie verehren.
Die alljährliche französische Theaterolympiade im Süden der Republik hat zu diesem Zeitpunkt bereits die Hälfte des Programms absolviert, das Publikum bis dahin aber noch nicht unbedingt mit großen Namen gelockt – sieht man von Anne Teresa De Keersmaeker und ihrem nächtlichen Tanzabend „Cesena“ ab. Die Festivalmacher Hortense Archambault und Vincent Baudriller warteten also auch mit jenem Glamour auf, den Festivals nun mal brauchen. Es verstand sich also von selbst, dass der eher intime Genet-Abend in der riesigen Spielstätte des Papstpalastes stattfinden musste. Schließlich ging es nicht um das richtige Verhältnis von Kunst und Raum, sondern um Jeanne Moreau, die sich an den „Komplizen“ von damals erinnert, mit dem sie durch die Pariser Bars zog, wo er sie dann als Lockvogel für schöne Männer nutzte.
So beschreibt sie heute die Zeit Anfang der 1950er Jahre, als sie den fast zwanzig Jahre älteren Mann kennen lernte. Ob Jeanne Moreau schon damals ihre von Zigaretten so abgrundtief schön geformte Stimme hatte, sei dahingestellt. Wichtig ist, dass sie sich nun Genets erstem literarischen Werk widmet: dem Langpoem „Le Condamné à mort“, einem Maurice Pilorge gewidmeten Liebesgedicht. Genet hatte den „Zum Tode Verurteilten“ im Gefängnis kennen gelernt, diesen Gewalttäter mit dem Engelsgesicht, der wegen gerade mal 1.000 Franc einen Freund ermordet hatte. Pilorge wurde am 17. März 1939 hingerichtet, Genets Poem erschien drei Jahre später und bot bereits diese mit viriler Männlichkeit getränkte Atmosphäre, in der „harte Glieder“ und „gespannte Ruten“ eine morbide Allianz mit einer maritimen Laszivität eingehen.
Damals war das ein Skandal, heute ist es Literatur. Und als solche behandelt Jeanne Moreau auch die Verse, die immer mal wieder wie Donnergrollen ihrer Kehle entsteigen, als verkünde sie die zehn Gebote. Plötzlich aber wird ihre Stimme ganz sanft, als sei sie auf der Suche nach dem kleinen Jungen, der sich doch irgendwo hinter all der aufgeplusterten Männlichkeit verstecken muss, mit der Genet die anständige Welt auf Distanz hielt. In solchen Momenten bringt Jeanne Moreau den Menschen nahe, dass der ungezogene Junge doch gar nicht so schlimm gewesen sein kann, sondern wohl nur ein von seinen Eltern verlassenes Kind war, das so hart tun musste, um zu bestehen.
Weiß vor düsterer Wand
Das ist schon ein Ereignis: Die Moreau ganz in Weiß und hinter ihr die düstere Wand des Papstpalastes. Da nimmt man dann auch den Mann neben ihr in Kauf, der das Ganze ins Rollen gebracht hat. Die Rede ist von Étienne Daho, der in den 1980er Jahren als Punk startete, im Pop landete und unter anderem Songs für Jane Birkin und Marianne Faithfull schrieb. Natürlich verehrt auch er Jean Genet und hat sich dessen „Le Condamné à mort“ als Zweitverwerter genähert, indem er eine Vertonung des Gedichts aus dem Jahr 1964 neu arrangierte: für drei Gitarristen, einen Schlagzeuger und eine Cellistin. Die Vertonung stammt von Hélène Martin und besänftigt Genets lyrischen Exzess mit seriell an- und abschwellende Akkorden. Das lädt zum Sprechgesang ein und geht in Ordnung. Nicht in Ordnung geht, dass Étienne Daho tatsächlich singt und dem Ganzen einen Ton gibt, der den Eindruck erweckt, man genieße einen mit Himbeereis versüßten Genet.
Dahos schmachtende Stimme und seine emphatische Gesten, wenn er die geballte Faust wie im Liebesschmerz ans Herz drückt, passen an diesem Abend nicht so zu Genet, wie Avignon und Jeanne Moreau schon immer zusammenpassten. Im Gründungsjahr des Festivals stand sie in Jean Vilars Inszenierung von Shakespeares „Richard II.“ auf der Bühne. Das war 1947 und sie gerade mal neunzehn. Heute ist sie eine lebende Legende und hat immer noch diese Stimme, die man sich nur im richtigen Leben zuziehen kann. JÜRGEN BERGER