Direkte Demokratie nur für Deutsche

Ohne deutschen Pass keine direkte Demokratie. Während EU-Ausländer in NRW seit Jahren an Kommunalwahlen teilnehmen können, gilt ihre Stimme nichts, wenn sie eine Volksinitiative unterstützen, die das Wahlrecht verändern soll

VON HENK RAIJER

Zwölf Wochen tingelt der Verein „Mehr Demokratie“ schon durch NRW. Seine Mission: 66.152 Unterschriften für die Volksinitiative „Mehr Demokratie beim Wählen“ müssen her. Das sind 0,5 Prozent der Stimmberechtigten im Lande und somit das erforderliche Quorum, damit der Landtag sich mit dem Thema befassen muss. Wie bereits in den meisten Bundesländern praktiziert, sollen auch die Bürger in den Städten und Gemeinden NRWs in die Lage versetzt werden, durch das Häufeln mehrerer Stimmen auf einzelne Kandidaten und das Verteilen von Kreuzchen auf Mandatsbewerber verschiedener Parteien die von den Parteien vorgeschlagene Listenreihenfolge der Kandidaten zu verändern. Nun können nach geltendem Wahlrecht auch EU-Ausländer an Kommunalwahlen teilnehmen – skurriler Weise aber nicht mit ihrer Unterschrift für eine Veränderung des Wahlmodus‘ eintreten. „Richtig bewusst geworden ist uns das erst im Verlauf der Kampagne“, sagt Thorsten Sterk, Sprecher des NRW-Landesverbandes von „Mehr Demokratie“.

An ihren Ständen vor Ort haben die Multiplikatoren der Bürgeraktion in den vergangenen drei Monaten immer wieder feststellen müssen, dass in NRW gemeldete Briten, Spanier oder Italiener zwar gerne unterschreiben würden, ihre Unterschrift aber am Ende nichts gilt. Angelos Parsalidis mag sich mit dieser Ausgangssituation nicht zufrieden geben. Der Kölner mit griechischem Pass sortiert im Büro von „Mehr Demokratie“ in Köln-Porz die eingegangenen Listen und leitet sie der jeweiligen Stadtverwaltung zur Überprüfung weiter. Auch gesammelt hat der 43-Jährige schon. „Sich als Mitglied in diesem Verein zu engagieren und dabei selbst bei der Volksinitiative keine Stimme zu haben, fühlt sich schon irgendwie merkwürdig an“, sagt Angelos Parsalidis, der in Stuttgart geboren wurde und in Köln Volkswirtschaft studiert hat. Zwar habe er in den vergangenen Jahren immer wieder über eine Einbürgerung nachgedacht, den Antrag aber letztlich nicht abgeschickt, weil gerade mit der Einführung des kommunalen Wahlrechts für EU-Ausländer der vermeintlich letzte Grund entfallen sei, Deutscher zu werden.

„Ein Manko am System“

Für Angelos Parsalidis ist die Hürde, die nur durch eine Petition an den Bundestag und eine Wahlrechtsänderung auf Bundesebene genommen werden könnte, ein „Manko am demokratischen System“. Wie er generell das bestehende Wahlrecht als zu eingeschränkt bezeichnet und sich, obwohl ihm eine Teilhabe verwehrt ist, für eine Reform einsetzt. „Es ist wichtig, dass die Leute mehr Möglichkeiten an die Hand bekommen, über die Zusammensetzung ihrer Volksvertretung zu bestimmen“, findet Parsalidis. „So wie sie auch bei wichtigen kommunalen Entscheidungen wie den Bau von Einkaufszentren oder Stadtautobahnen mitreden sollten.“

Auch Nele Swanton empfindet den Ausschluss vom basisdemokratischen Verfahren der Volksinitiative für eine neues Wahlrecht als „Einschränkung meiner Bürgerrechte“. Die 21-Jährige, die größtenteils in Deutschland aufgewachsen ist, macht einen 400-Euro-Job bei der grünen Jugend in Düsseldorf und hat zusammen mit den Aktivisten von „Mehr Demokratie“ auf der Straße Unterschriften gesammelt. Es mache einen Unterschied, ob man bei Entscheidungen, die einen betreffen, aktiv Einfluss nehmen könne, meint die angehende Schauspielschülerin, die die irische und die belgische Staatsangehörigkeit besitzt. „Ich will solche Listen unterschreiben können“, fordert Nele Swanton. Die deutsche Staatsangehörigkeit strebe sie nicht an, erklärt die junge Frau. „Dafür müsste ich ja gleich zwei andere aufgeben.“

Warum sich nicht auch in NRW lebende Bürger ohne deutschen Pass in die Listen eintragen können, vermag Thorsten Sterk von „Mehr Demokratie“ nicht einzusehen, „zumal die Volksinitiative nur Petitionscharakter hat. Eine Eintragungsberechtigung würde der Integration hier lebender Ausländer zweifellos dienen“, so Sterk. In Berlin könnten schließlich auch Nichtdeutsche eine Volksinitiative unterschreiben.

Von diesem Ziel sind Migranten aus Nicht-EU-Staaten in NRW noch weit entfernt – Türken etwa dürfen anders als hier lebende Griechen, Franzosen oder Holländer nicht mal über ihren Stadtrat abstimmen. Einer, der sich auf kommunaler Ebene für eine Wahlrechtsänderung stark macht, ist der Duisburger Bauunternehmer Ersin Erdal. Immer wieder, betont der 34-jährige Lokalpolitiker, lade er Landtags- und Bundestagsabgeordnete zu Veranstaltungen ein, um in dieser Sache voranzukommen.

Doch nicht nur die CDU, auch seine Partei kalkuliere die gesellschaftlichen Widerstände in der Frage eines Wahlrechts für alle hier lebenden Bürger ohne deutschen Pass ein, weiß der Geschäftsmann, der im Stadtteil Rheinhausen dem Fraktionsvorstand der SPD angehört. „Sobald Migranten mitbestimmen wollen, wird ihr Ansinnen gedeckelt“, moniert der Unternehmer, der im Duisburger „Problembezirk“ Hochfeld ein Planungs- und Ingenieursbüro betreibt. Er selbst, sagt Erdal, der seit gut neun Jahren in der SPD aktiv ist, besitze seit 2004 die deutsche Staatsangehörigkeit. Über den Grad der Integration indes sage ein deutscher Pass nicht viel aus.

Kein Bock auf Wählen

Gerade weil die politische Partizipation ein wichtiger Gradmesser für die Integration der Bürger ist, bedauert Ersin Erdal, dass die Türken als größte Gruppe unter den Migranten nicht mal bei kleinsten Entscheidungen, die sie unmittelbar betreffen, mitreden können. „Die Rheinhausener Sozialdemokraten wollen zum Beispiel gerade mit einem Bürgerbegehren die mit den Stimmen von CDU und Grünen beschlossene Schließung des Freibades am Toeppersee verhindern“, erzählt Erdal. „12.000 Unterschriften brauchen wir, um das auf den Weg zu bringen.“ Man stelle sich vor, da komme ein Türke, der das Freibad schon mehr als ein Jahrzehnt mit seiner Familie im Sommer regelmäßig aufsucht, an den Stand und wolle sich in die Liste eintragen. „Der kann sich seine Willensäußerung schenken“, empört sich Erdal. „Aber der Bulgare, der erst seit einigen Monaten in Duisburg lebt und den Toeppersee nicht mal kennt, kann hier sogar wählen.“

Die Volksinitiative zu unterstützen, bliebe auch dem 26-jährigen Fikret verwehrt, wenn er denn von dieser Möglichkeit der direkten Demokratie was wüsste. Der junge Grieche westthrakischer Herkunft, der im Alter von acht Jahren nach Duisburg kam und statt Griechisch nur Alttürkisch, die Sprache seiner Heimatregion, beherrscht, hat ebenso wenig wie seine Kumpels im Hochfelder Café 2000 jemals an einer Kommunalwahl teilgenommen. „Wir kennen uns nicht so aus mit dem, was hier in Deutschland so läuft“, erzählt Fikret, der zur Zeit eine zweieinhalbjährige Hotelfachausbildung absolviert. Und was, wenn der von ihm und seinen Kumpels nicht mitgewählte Stadtrat über seinen Kopf hinweg beschlösse, seine Straße zu einer Stadtautobahn umzuwidmen? „Ja, dann würde ich dagegen protestieren“, sagt Fikret. Auf den Einwand, dass sein Name auf einer Unterschriftenliste in dem Fall nichts zählte, antwortet der junge Familienvater: „Das ist nicht in Ordnung, das muss ich mit meinen Eltern und den Kumpels im Café tatsächlich mal besprechen.“