: Das Paradies ist verriegelt
KÜSSE UND BISSE (8) – Notizen zum Kleist-Jahr: Von der Unordnung, die das Bewusstsein anrichtet – der Essay „Über das Marionettentheater“, der erstmals 1810 in den „Berliner Abendblättern“ erschien
Kleists Essay „Über das Marionettentheater“ erschien erstmals 1810 in den Berliner Abendblättern, jener ambitionierten, aber zensurgebeutelten und finanziell erfolglosen Tageszeitung, die Kleist zusammen mit Julius Eduard Hitzig für ein halbes Jahr nur – von Oktober 1810 bis März 1811 – herausgab, redigierte und zu großen Teilen auch selber vollschrieb. In einem führenden Intelligenzblatt der Gelehrtenrepublik wäre diese als anekdotische Erzählung getarnte poetologische Programmschrift, die sich am Ende zu einer geschichtstheologischen Spekulation auswächst, vielleicht besser aufgehoben gewesen.
Wie in einem sokratischen Dialog lässt Kleist hier einen bekannten Tänzer dem Ich-Erzähler die ästhetischen Qualitäten des Marionettentheaters nahebringen und beweist schließlich, „dass in einem mechanischen Gliedermann mehr Anmut enthalten“ ist „als in dem Bau des menschlichen Körpers“. Die Voraussetzung für Kleists Argumentation ist ein der biblischen Heilslehre abgeschautes Konzept vom reinen, edlen Naturzustand des Menschen, den er mit der Entwicklung der Ratio einbüßt. Die schöne Unschuld ist dahin, weiß Kleists philosophisch gebildeter Herr C., „seitdem wir vom Baum der Erkenntnis gegessen haben“. Adam und Eva erkennen danach bekanntlich ihre Nacktheit. Der Mensch wird sich selbst bewusst, reflektiert sein Wesen und Handeln. Und tritt in die Geschichte ein.
Wer über sich nachdenkt, handelt nicht mehr natürlich, weil „die Seele“ sich nun „in irgend einem anderen Punkt befindet“, aber eben nicht mehr im „Schwerpunkt der Bewegung“. Das weiß jeder, der schon mal im Sportunterricht eine Rolle rückwärts vorturnen musste. Die ästhetischen Konsequenzen daraus sind entsprechend weitreichend. Nur im Zustand der Naivität, der reflexionslosen Ursprünglichkeit, ist „natürliche Grazie“, wahre Schönheit also denkbar. Wir armen Gehirntiere können diesen Naturzustand nur mehr nachahmen, es bleibt da stets ein Rest „Ziererei“. Eben deshalb ist die bewusstlose Marionette dem Tänzer ästhetisch überlegen.
Anders als die Romantiker, die in der Kunst selbst, wenn man sie nur richtig rannimmt – „triffst du nur das Zauberwort“ (Eichendorff) –, den magischen Schlüssel zu finden glauben, um das Paradies zumindest für ein paar Momente wieder aufzuschließen, gibt es für Kleist kein zurück: Das „Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.“ Ein grandioser, entsprechend vielzitierter Satz, der die chiliastische Dimension dieses Aufsatzes ankündigt. Wenn „die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist“, wenn man also einmal rum ist um die Welt, „findet sich auch […] die Grazie wieder ein; so, dass sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewusstsein hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott.“
Das allerdings wäre „das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt“, also das Ende des Menschen als geschichtliches Wesen. Denn dann bräche tatsächlich die Heilsgeschichte an, in der Gott und Menschen wieder Hand in Hand umherwandeln, wäre der paradiesische Urzustand wiederhergestellt. Eine Vorstellung übrigens, die so ähnlich auch von anderen gläubigen Geschichtsphilosophen, etwa Walter Benjamin oder Marshall McLuhan, formuliert wurde.
Man muss diesem grandiosen Essay aber gar nicht bis in die letzte geschichtsphilosophische Windung folgen, um seinen diagnostischen Wert anzuerkennen. Und vielleicht ist es nicht zuletzt eine Frage der individuellen Erfahrung, ob man Schiller zustimmen mag („Über Anmut und Würde“), für den Anmut, also die Harmonisierung des Geistes mit „der von ihm abhängenden sinnlichen Natur“, gar kein prinzipielles Problem darstellt. Oder ob man sich lieber mit Kleist, dem Schutzheiligen aller schüchternen, an ständigen Selbstzweifeln laborierenden Künstlertypen, die Haare rauft darüber, „welche Unordnungen, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewusstsein anrichtet“.
FRANK SCHÄFER
■ 2011 ist Kleist-Jahr. Am 21. November 1811 hat sich der Dichter erschossen. Wir drucken, immer am 21. eines Monats, Notizen zu Leben und Werk dieses seltsamsten deutschen Klassikers