Die Vahr kam damals groß raus

Vor 50 Jahren war die Vahr die größte Wohnsiedlung in Deutschland, heute macht sich auch hier der demographische Wandel bemerkbar. Das Wahrzeichen Aalto-Hochhaus fast ganz vermietet

Von Catharina Oppitz

Höhenangst darf man hier oben natürlich nicht haben“, sagt Erika W. und schaut über die Brüstung ihrer Wohnung im achten Stockwerk. Einem Onkel von ihr sei es mal so schlecht geworden, dass er den Balkon nie wieder betreten hat. „Dafür ist die Aussicht wunderbar und alles ist sehr annehmlich geregelt in diesem Haus“, findet sie: „Es war eine große Freude, hier einzuziehen. Die Wohnungen hatten Zentralheizung und ein eigenes Bad.“ Der finnische Architekt Alvar Aalto hatte das 65 Meter hohe Wohnhaus entworfen, es war bis in die 70er Jahre das höchste Wohnhochhaus Deutschlands.

Günstiger Wohnraum war knapp im Nachkriegs-Bremen. Mitte der 50er Jahre suchten noch etwa 25.000 Bremer Wohnraum, das Neubaugebiet im Südosten der Stadt sollte die Not lindern. Bis 1962 entstand die „Neue Vahr“ mit 10.000 Wohnungen.

Für den Stadtteil wegweisend war das Prinzip der „Gartenstadt“: Die Häuser werden quer zu den Straßen gebaut, dadurch sind öffentliche Grünflächen vor jedem Haus. Schon von Weitem sichtbar ist das Aalto-Hochhaus, das als städtebauliches Wahrzeichen der Vahr gilt. Und beliebt ist: Von den 189 Wohnungen sind auch heute nur zwei zu haben. Aus den Anfangstagen leben nur noch sechs Parteien in den Nachbar-Stockwerken von Erika W. Viele der erst-Bezieher sind in Eigenheime gezogen. Anfangs hatte es Versuche gegeben, „Tagesräume“ für die Bewohner zu schaffen, Sitzecken, in denen die Nachbarn sich treffen konnten. Die waren aber schnell vor allem bei Alkoholikern beliebt. Die leeren Ecken im Eingangsbereich der Etagen lassen die Flure noch unbewohnter und menschenleerer erscheinen. Von einem Gemeinschaftsgedanken zeugen auch die Waschhäuser, in denen die Bewohner ihre Wäsche waschen sollen. So dachten es sich die Stadtplaner damals, als dieses Haushaltsgerät noch unerschwinglicher Luxus war. In den kleinen Wohnungen ist für eine Wachmaschine kaum Platz.

Die Wohnungen sind 34 bis 59 Quadratmeter groß und sind in der Regel Ein-Zimmer-Wohnungen. Vor allem Singles wohnen daher im Aalto-Hochhaus, es ist ein Gebäude ohne Kinder. Das Aalto-Hochhaus reflektiert heute den Trend der Demographie der „Neuen Vahr“: Hier wohnen jetzt die meisten älteren Menschen in Bremen. Aber viele der Wohnungen sind noch nicht altersgerecht umgerüstet und auch im Umfeld der Wohnungen fehlt häufig eine barrierefreie Infrastruktur. Der Fahrstuhl befindet sich in der Zwischenetagen. Da wird auch die Garten-Gestaltung zum Problem: Weil die Wege oft weit sind, können gerade in der Mobilität eingeschränkte Bewohner an sozialen Angeboten im Stadtteil nur schwer teilnehmen.

Seiner Zeit voraus war Alvar Aalto allerdings, was die Mülltrennung angeht. Im Treppenhaus befinden sich Schächte, in die man seinen Müll werfen kann. Und auch das Altpapier. Moderne bedeutete für ihn auch, nicht den Müll runtertragen zu müssen.

Durch die halbrunde Bauweise des Gebäudes ist jede Wohnung etwas anders geschnitten.

Dass sie in der Vorzeigearbeit eines Stararchitekten wohnt, das seit 1997 unter Denkmalschutz steht, ist Erika W. bewusst, aber: „Ja, es ist auf seine Art schon etwas Besonderes. Aber kaufen kann ich mir davon doch auch nichts, oder?“