: Fleisch für Vegetarier
TOUR Alberto Contador ist nicht mehr der allesbeherrschende Dominator der Rundfahrt, sondern nur noch gut für Tagessiege
AUS PINEROLO TOM MUSTROPH
Alberto Contador hat sich verändert. War aus dem einstigen Dominator in Gipfelhöhen im ersten Drittel dieser Tour de France ein Bruchpilot geworden und danach einer, der in den Pyrenäen nur mithalten konnte, so mutierte der Spanier in der dritten Tourwoche zu einem Attackenreiter längst vergangen geglaubter Prägung. Contador versuchte dabei, auch den winzigsten Vorteil auszunutzen. Der Spanier, der einst an Steigungen die Konkurrenz deklassierte, ist nun auch auf Abfahrten ein Hasardeur. Das muss er auch, denn beim Klettern im Hochgebirge zeigt der Spanier überraschende Schwächen. Auch gestern auf der Königsetappe in den Alpen schwächelte Contador beim Anstieg zum 2744 Meter hohen Col Agnel, sein Tagesform ließ Schlimmes für ihn erwarten; die Tourfahrer kamen nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe ins Ziel.
Jetzt ist der Spanier selbst in die Rolle des nimmermüden Arbeiters geschlüpft. „Die wichtigste Sache ist, es jeden Tag zu versuchen“, lautet das neue, arg bescheidene Credo des Mannes, der mit seinen leichtfüßigen Antritten in Bergeshöhen bekannt geworden ist. Contadors Transformation ist trotz seiner Schwierigkeiten im Hochgebirge bemerkenswert. Sie zeigt die Champion-Qualitäten des Spaniers – und sie zeigt Contador auch als Menschen, der an Leistungsgrenzen kommt. Mag er wegen des Clenbuterol-Funds bei der letzten Tour de France und des danach verschleppten Verfahrens vor der Sportjustiz weitab von der Figur eines edlen Sportsmannes sein, so löst die Art und Weise, in der der in die Ecke gedrückte Souverän sich des Ansturms der Meute erwehrt, doch Respekt aus.
Contador pocht nicht auf alte Privilegien. Er verlässt sich nicht darauf, die schwächeren Zeitfahrer in Grenoble zu überholen und recht sicher zumindest einen Podiumsplatz hinter dem Australier Cadel Evans zu erobern. Der Mann, der sechsmal bei einer dreiwöchigen Rundfahrt antrat und sie stets gewann, will auch jetzt der Sieger sein.
Vielleicht ist dieser Siegeshunger unmäßig und grotesk. Contadors Bruder Fran erzählt, dass Alberto schon als Halbwüchsiger beim Kartfahren und beim Kartenspielen immer gewinnen wollte. „Er will einfach nicht verlieren“, charakterisiert ihn Fran Contador. Für die nähere Umgebung mag dies nicht immer einfach sein. Aus einem Talent wird aber nur mit der nötigen Portion Durchsetzungswillen auch ein Champion. Das unterscheidet Contador von Andy Schleck.
Der Luxemburger verspielte seinen Vorteil durch Abwarten in den Pyrenäen und Unaufmerksamkeit bei kleineren Anstiegen im Alpenvorland. Im Gegensatz zu Contador, der nach den Abfahrtskrimis beim Giro an seinen Downhill-Fähigkeiten gearbeitet hat, unternahm der Luxemburger in dieser Nebendisziplin des Radsports nichts.
Das ist ein Manko. Und so blieb den Gebrüdern Schleck angesichts des transformierten Kontrahenten Contador nur die Kompensation durch Verbalattacken. „Im letzten Jahr nutzte er einen Kettenschaden. Jetzt greift er auf Abfahrten an. Das ist seine Wahl“, ätzte Fränk Schleck und machte dabei eine abfällige Miene, die ausdrückte: Er hat so etwas wohl auch nötig. Natürlich hat Alberto Contador „so etwas“ nötig. Er unternimmt es und verwandelt dadurch diesen Sport in einen Kampf. Wer Kämpfe schätzt, hat in Alberto-Rocky einen Protagonisten für epische Geschichten.
Für einen Moment mag man dabei sogar vergessen, was gegen Clentador so vorliegt. „Congladiator“ nennt ihn die in letzter Zeit nur für das Sportliche, nicht mehr für den Zweifel zuständige L’Equipe. Zum 100. Geburtstag der Galibier-Überquerung durch die Tour de France kann vielleicht auch nördlich der Alpen der „Clentador“ hinter dem Congladiator zurückstehen, bevor dann der Sportgerichtshof CAS wieder für die rechte Unterscheidung sorgt. Es ist ein schizophrenes Vergnügen, gewiss. Aber gut und böse sind nur für Ideologen säuberlich getrennt. Von Contador fasziniert zu sein, ist vielleicht wie Fleisch essen für Vegetarier – ein Tabubruch und ein Genuss zugleich.
Im Lande der Gourmets und Gourmands weiß man dies zu schätzen. Die Pfiffe, die Contador bei der Teampräsentation noch empfingen, sind verstummt. Der Spanier feiert nördlich der Pyrenäen seine Art von Sommermärchen und benebelt dabei die Sinne vieler.