: Schwierige Platte, große Gala
Lou Reed führte ein 34 Jahre altes Album als Bühnenrevue im Tempodrom auf. „Berlin“ brachte einst die Fans zur Verzweiflung, heute aber freuen sich die Nachgeborenen
Da derzeit allerorten der Untergang des klassischen Künstleralbums beschworen wird, das gegen die fragmentierten Hörgewohnheiten einer iPod-Gesellschaft auf lange Sicht keinen Bestand habe, wirkt die Idee Lou Reeds, ein 34 Jahre altes Album wie eine Bühnenrevue neu aufzuführen, geradezu unerhört. Die Gala zur Platte und nicht umgekehrt, das gab es in dieser Form wohl noch nie. Doch Renitenz fand der Meister mit dem Knittergesicht schon immer gut. Bereits zu Zeiten von Velvet Underground galt er als schwieriger Zeitgenosse.
Auch sein Album „Berlin“, das 1973 erschienen ist und das nun, Jahrzehnte später, an den Ort seiner Inspiration als pompöse Show zurückkehrt, war damals nicht das, was Plattenfirma und Fans von ihm erwartet hatten. Mit „Transformer“ feierte er ein Jahr zuvor seinen Durchbruch als Solokünstler, und „Walk On The Wild Side“ wurde ein echter Hit. Dann aber kam der bisexuelle Dekadenzchronist mit diesem verstörenden Konzeptalbum daher, das Geschichten voll Verzweiflung, Trennungen, aufopfernder und sinnloser Liebe in einer geteilten Stadt erzählte. Einem dunklen Album, von dem man einfach nicht wusste, was man damit anfangen sollte. Der Rolling Stone attestierte ihm, das „Sgt. Pepper der Siebziger“ zu sein, nannte es andererseits aber auch „ausgekocht widerlich“.
Doch Lou Reed versteht sich mit seinem „Berlin“-Konzert nicht nur als echter Streiter gegen die als dem Pop oftmals immanent betrachtete Vergänglichkeit, er stellt sich dazu noch vor sein Werk wie die Vogelmutter vor ihre Kleinen. Und das nicht zum ersten Mal in Berlin. Als vor fünf Jahren das Berliner Avantgardeensemble Zeitkratzer Reeds „Metal Machine Music“ in der deutschen Hauptstadt aufführte, freute sich der Rocker über die späte Anerkennung dieses frühen Meilensteins der Krachmusik und griff selbst mit zur Gitarre.
Auch im Alten liegt eine Kraft, die von einer neuen Generation neu entdeckt werden kann: Nach dieser kleinen „Berlin“-Tour kann man sicher sein, dass sich viele das eben neu aufgelegte Album nochmals anhören werden. Man wird wissen wollen, ob die Platte von damals hält, was einem das Konzert von heute versprochen hat. So perfekt ausgetüftelt und schier berstend vor Kunstsinnigkeit wie diese Show, die auch dem Broadway gut zu Gesicht stehen würde, kann ein simples Rockalbum aus den Siebzigern gar nicht sein. Da werden junge Bands wie Arcade Fire dafür gerühmt, zehnköpfig hinter ihren Instrumenten zu stehen, aber, meine Damen und Herren, im Tempodrom kann man ganze 27 Personen auf der Bühne zählen.
Neben seiner kleinen Rockband hat der New Yorker auch die Heulboje Sharon Jones mitgebracht, die mit ihrer Stimmwucht einen ganzen Backgroundchor ersetzt. Dabei gibt es ja auch noch den zwölfköpfigen New London’s Children Choir, außerdem einen Bläsersatz und ein Streichquartett. Doch bevor sich das opulente Ensemble in Bombast verliert, sorgt das unprätentiöse Auftreten der Diva Reed selbst dafür, dass die ganze Angelegenheit zumindest noch rudimentär auch etwas mit einem Rockkonzert zu tun hat. Wenn Reed mit seinem engen Muskelshirt seine Gitarre zum Jaulen bringt, dann fällt auch dem Typen mit der Lederjacke wieder ein, weswegen er eigentlich hier ist.
Überhaupt ist das Publikum sicht- und hörbar dankbar für das, was ihm geboten wird, ein Rockkonzert, ein Musical und speziell für die Revue von Julian Schnabel erstellte Visuals. Auch Lou Reed ist nach dem Konzert sichtlich zufrieden. Und zum Schluss, als Belohnung, als Nachtisch mit Sahne, gibt es dann noch „Satellite of Love“ und natürlich „Walk On The Wild Side“. Das reißt dann auch den letzten Studenten von seinem Sitz.
ANDREAS HARTMANN