Dichtung, Wahrheit und ein gefühltes „P“

Was heißt Poesie heute? Die Diskrepanz zwischen einem vom klassischen Gedicht ausgehenden Lyrikverständnis und einer Dichtung, die gesprochene Sprache in all ihren Facetten reflektiert, ist groß. Das Poesiefestival zeigt, wie unterschiedlich mit Sprache umgegangen werden kann

VON ANDREAS RESCH

Verteilungskämpfe gibt es überall, glaubt Hendrik Jackson. Warum also sollten ausgerechnet die Lyriker davon verschont bleiben? Am Dienstagnachmittag diskutierten auf dem diesjährigen Poesiefestival die Autoren Hendrik Jackson, Uwe Kolbe, Sabine Scho und Ulrike Draesner über die „Lage des Gedichts in Deutschland“. Und obwohl der erste Programmpunkt mit „Schluss mit Klagen“ betitelt war, echauffierte sich Draesner erst einmal: über den Kritiker Helmut Böttiger, der der deutschen Dichtung in der Süddeutschen mangelnde Welthaltigkeit attestiert hatte, über Verleger, die Autoren nicht angemessen förderten, und schließlich über die schlechten Arbeitsbedingungen für Poeten, die vor lauter Reisen kaum mehr zum Schreiben kämen. Auch Sabine Scho stimmte in das Klagelied ein und fragte sich, wer heutzutage noch wisse, wie man einen Gedichtband zu lesen habe.

Doch nicht nur Jackson wollte daraufhin das Bild vom armen, ausgebeuteten Poeten ein wenig zurechtrücken. Auch Uwe Kolbe wollte sich dem Pessimismus seiner Vorrednerinnen nicht anschließen und lobte die Vernetzung innerhalb der Dichtergemeinde. Er ist gegen die staatliche Förderung des „poor poets jetset“ und kritisiert die neueste Poesie als „Binnendiskurs unter jüngeren Akademikern“. Unpolemisch verstanden bringt diese Einschätzung das Vermittlungsproblem neuerer deutschsprachiger Lyrik ziemlich genau auf den Punkt.

Wie groß die Diskrepanz zwischen einem vom klassischen Gedicht ausgehenden Lyrikverständnis und einer Dichtung, die gesprochene Sprache in all ihren Facetten reflektiert, mittlerweile ist, wird auf dem Festival anhand von Veranstaltungen wie „Multimedial durch Montréal“ sichtbar. In einer eigens für das Festival konzipierten Performance, die am Montag im Kesselhaus zu sehen war, hat ein kanadisches Künstlerkollektiv Spoken-Word-Poesie mit Filmausschnitten, Musik und Tanz zu einer die Sinne aufs Äußerste strapazierenden Bühnenshow verwoben.

Mit kieksender, sich überschlagender Stimme intonierte die Stimmkünstlerin Alexis O’Hara Sätze wie „Das war fantastisch oder seltsam“. Der massige Michel Vézina proklamierte seine Verse, deren Sinn immer wieder von auf der Leinwand vorüberziehenden Textfragmenten kontrastiert wurde, in englischer und französischer Sprache. Unterlegt mit Schlagzeug und Gitarre, ging Sprache immer wieder in mal sanft zirpende, mal lärmend fräsende Soundkaskaden über, nur um kurze Zeit später wieder als Text aus der Musik herauszufließen.

Auch wenn viele Ideen nicht unbedingt neu waren, zeigte die Veranstaltung, wie spannend zeitgenössische Livelyrik jenseits humoriger Lesebühnenbeschaulichkeit und abgedroschener Dichterposen sein kann.

Mit solch extremen Liveerlebnissen hat die Kunst eines Christof Migone wenig gemein. In seinen Werken geht es vielmehr um Reduktion, Variation und um Freiheit, die aus Selbstbeschränkung hervorgeht. So hat Migone an 189 aufeinander folgenden Tagen den Buchstaben „P“ artikuliert und das Ganze zu einem einminütigen Clip zusammengeschnitten. Dadurch, dass Emotionen in der seriellen Verarbeitung eines einzigen Lautes übermittelt werden, wird die kleinste bedeutungsunterscheidende sprachliche Einheit, das Phonem, plötzlich zum Bedeutungsträger. Es ließe sich festhalten: Auch wenn Dichtung heute kaum mehr verortbar ist, weil der Pluralismus der Formen zwischen traditionellem Gedicht, abstrakter Konzeptkunst und schriller Liveperformance oszilliert, scheint sie gleichzeitig unverwüstlicher denn je.

Das Poesiefestival Berlin 2007 läuft noch bis Sonntag, den 1. Juli. Das Programm findet sich unter www.literaturwerkstatt.org