: Bürgerin Gerlinde
Sie braucht keine Bodyguards, und der Flirt mit der Kamera ist ihre Sache nicht. Die Frau des neuen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg sieht sich nicht als First Lady oder Landesmutter. Das mag unglamourös sein, aber in Zeiten von Bürgerzorn und Finanzkrise sind Bodenständigkeit, Ehrlichkeit und Regionalität sehr attraktiv. Ein Spaziergang mit Gerlinde Kretschmann
von Susanne Stiefel
Das würde ihr gerade noch fehlen. Gerlinde Kretschmann schnappt nach Luft: Bodyguards. Zwei Schatten, die sie und ihren Mann womöglich noch auf ihren geliebten Wanderungen über die Schwäbische Alb begleiten würden. Bei diesen Wanderungen, die die 63-Jährige nicht nur für ihre Familie zusammenstellt, sondern auch für den Schwäbischen Albverein. Und manchmal marschiert Gerlinde Kretschmann sogar ganz alleine los, packt ihren Rucksack und ist für ein paar Tage dann mal weg. Das will sie weiter so halten. „Die armen Kerle müssten doch immer hinter uns herlaufen“, sagt die neue First Lady Baden-Württembergs im erdigen Singsang der Region, bei dem die Vokale wie Murmeln im Mund hin und her geschoben werden, „das ist doch furchtbar langweilig“. Es mag sich einiges geändert haben im Leben der Lehrerin. Aber Leibwächter? „Das brauch ich nicht“, sagt sie.
Gerlinde Kretschmann sitzt auf einer Bank im Wald. Ein bisschen angespannt wirkt sie, noch sind Interviews keine Routine. Sie hat ein Taschentuch ausgebreitet, bevor sie sich gesetzt hat, damit die türkise Hose nicht dreckig wird. „Hier sitz ich sonst nie“, sagt sie, „hier marschier ich höchstens vorbei.“ Es ist ihr Wald hier, er beginnt gleich hinter dem Haus der Großmutter, das sie seit 30 Jahren mit ihrer Familie bewohnt. Kein Bodyguard weit und breit. Darüber ist sie froh wie um jedes Stück Normalität, seit sich mit der Wahl ihres Mannes zum ersten grünen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs auch ihr Leben verändert hat.
Viele Kameras waren schon auf sie gerichtet, „Mona Lisa“ war da, die Bunte auch, die Landespresse sowieso. Die Lehrerin genießt die neue Aufmerksamkeit mit ambivalenter Freude. Ihre Wichtigkeit macht sie davon nicht abhängig. „Jetzt bin i so alt geworden“, sagt sie und lacht, „des fang i nemme an.“
Nicht eingeschüchtert von der Kälte der Macht
Gerlinde Kretschmann ist die wohl unglamouröseste First Lady, die Baden-Württemberg je hatte. Sie wird kaum im sexy Kampfanzug für Furore sorgen wie eine ihrer Vorgängerinnen. Frau Kretschmann trägt auch keinen Doppelnamen, und sie backt auch keine Plätzchen. Am Tag der Regierungsvereidigung, zum ersten Mal in der Villa Reitzenstein, tätschelt sie ihrem Mann Arm und Wange, als wären sie auf einer Hocketse in Laiz, dem Heimatort der Kretschmanns – ohne Scheu vor der Kälte der Macht oder den Kameras, die jede noch so kleine Bewegung registrieren. Gerlinde Kretschmann will kein Dame sein. Und keine Landesmutter. Mit diesen Titeln kann sie nichts anfangen, das hat sie gleich nach der Landtagswahl verkündet. „Ich kann mich nicht um alle zehn Millionen Baden-Württemberger kümmern“, sagt die dreifache Mutter, die diese Rolle sehr ernst nimmt. Dame, Landesmutter, First Lady – für sie sind das Begriffe aus einer obrigkeitshörigen Epoche, die nicht mehr in die heutige Zeit passen. Zu gönnerhaft. Zu sehr von oben nach unten. Zu wenig Augenhöhe. Das ist nicht die Welt der Gerlinde Kretschmann.
Doch als ihr bei einer Veranstaltung im benachbarten Kloster Inzigkofen eine alte Bekannte von der CDU kürzlich um den Hals fiel mit den Worten: „Jetzt muss ich die neue Landesmutter begrüßen“, hat sie nur geschluckt und nichts gesagt. Sie weiß, dass die Konservativen wenigstens die Begrifflichkeiten behalten wollen, wenn sie schon die Macht verloren haben. Gerlinde Kretschmann hat Verständnis für Verlierer. „Wie sollen wir denn jetzt sagen?“, fragten die Leute. „Ha“, sagt dann die Landesmutter wider Willen, „ich bin einfach die Gerlinde Kretschmann.“
Diese Frau ist geerdet. Verwurzelt in der Region und im Glauben, seit vielen Jahren Lehrerin in Sigmaringen, sie singt im Kirchenchor, sie wandert gerne und mag ihren bunten Bauerngarten vor dem Haus, auch wenn der völlig verwildert ist und bei Schöner Wohnen und Landlust mit Aplomb durchfallen würde. „Gucket Se nicht hin, ich komme einfach nicht zum Unkrautrupfen“, stöhnt sie. Gerlinde Kretschmann ist keine Doris Schröder-Köpf und keine Bettina Wulff, der Flirt mit der Kamera ist ihre Sache nicht. Und das liegt sicher nicht nur am Alter.
Und doch sind die beiden Showverweigerer aus Laiz, sind Winfried und Gerlinde Kretschmann wohl gerade deshalb das Paar der Stunde. In unübersichtlichen Zeiten, in denen in fast wöchentlichem Rhythmus diskutiert wird, ob nach Spanien, Portugal und Griechenland nun auch Italien von Ratingagenturen herabgestuft und in den Bankrott getrieben wird, sind Bodenständigkeit und unaufgeregte Berechenbarkeit eine wohltuende Ausnahme. Wenn die Globalisierung Länder und Menschen in Krisen stürzt, wird die Region zur Zuflucht und zum Ort der Sehnsucht. Ehrlichkeit und Authentizität – das sticht in Zeiten, in denen wir an die Politik als Show schon so gewöhnt sind, dass wir uns die Augen reiben, wenn da mal welche nicht mitspielen: nicht schnell mal Worthülsen absondern, sondern sich die Zeit nehmen, eigene Gedanken zu formulieren. Sie sind das Paar der neuen Stuttgarter Republik, die die Zivilgesellschaft hochhält und Bürgerbeteiligung sogar mit einer Staatsrätin fördert. Ein Schuss Biederkeit gehört dazu. Der rechte Flügel der Grünen war noch nie weit von der CDU entfernt.
Nicht, dass sie uneitel wäre. Auch Gerlinde Kretschmann hat sich für den Fotografen nach dem Schulunterricht schnell rausgeputzt: farbenfrohe Hose und Shirt, Kette, goldene Schuhe. Sie hat sich sogar die Zehennägel grün lackiert, nur die drei allerdings, die man sieht, wie sie in schönster Offenheit bekennt, „ich hatte nach der Schule nicht länger Zeit“. Gerlinde Kretschmann hat ihren eigenen Stil, ihren eigenen Kopf und ihre eigene Geschichte. Darauf legt sie mit fröhlicher Bestimmtheit Wert.
Keine, die kuscht, und eine mit eigener politischen Karriere
Gerlinde Kretschmann ist keine, die kuscht. Ohne diesen eigenen Kopf hätte sie es nie geschafft zu studieren. Gerne erzählt sie die Geschichte vom „Sozi-Maier“. So nannten die Lehramtsstudenten an der PH in Reutlingen ihren Soziologie-Professor, der sich bestens mit gesellschaftlichen Handicaps auskannte, die ein Studium verhinderten. In einer Vorlesung nannte er fünf: weiblich, katholisch, aus bäuerlichem Haushalt, ländlicher Umgebung und kinderreicher Familie. Da stand Gerlinde Kretschmann auf und sagte: „Und hier steht der lebendige Gegenbeweis.“
Sie hat sieben Geschwister, der Vater war Bauer, und katholisch war man hier auf dem Land sowieso. Sie hat sich als Lehrerin durchgeboxt, verdient ihr eigenes Geld, und sie hat eine eigene politische Karriere. Das wird heute schon mal gern vergessen.
Fünfzehn Jahre lang war sie grüne Stadträtin in Sigmaringen. Sie hat als überzeugte Umweltpolitikerin für Fahrradwege gekämpft und gegen eine Autobahn quer über die Schwäbische Alb. Und als überzeugte Katholikin für eine Moschee am Sigmaringer Bahnhof, „weil jeder seine Religion leben können muss“. Manches hat die grüne Fraktionsvorsitzende im Stadtrat verhindert, manches durchgeboxt. Und manchmal wundert sie sich, dass sie nun nur noch als die Frau an seiner Seite wahrgenommen wird.
„Wenn ich ehrlich bin, ärgert mich das“, sagt sie mit einem entschuldigenden Lächeln. Gerlinde Kretschmann ist keine, die Ärger machen will. Dazu ist sie zu wenig Fundamentalistin. War es denn auch die Realpolitikerin Gerlinde, die ihrem Mann die maoistischen Flausen ausgetrieben hat? „Gefallen hat mir das nie“, sagt sie und kichert ihr mädchenhaftes Lachen, „aber gemerkt hat er das selber.“
„Bei Männern muss alles groß sein, koste es, was es wolle“
Im Juli geht sie in Rente, ihren Ruhestand hat sie sich etwas weniger unruhig vorgestellt. Reiten wollte sie, Kunst studieren oder Geschichte. Nun ist ihr eben mit 63 Jahren noch eine andere Rolle zugefallen. Mit ihrem Mann wird sie wohl nach Stuttgart ziehen, nicht auf die Solitude, das ist ihr zu abgehoben und zu groß, „acht Zimmer hat der Filbinger da bauen lassen, das brauchen wir nicht“, sagt sie entschieden. Nein, mitten hinein will sie, dorthin, wo das Leben spielt. „Natur“, sagt sie und macht ganz weite Arme, „das hab ich hier.“
Und wenn der Ministerpräsident mal spät von S-21-Verhandlungen nach Hause kommt, stellt sie ihm schon mal eine Hühnersuppe hin. Überhaupt S 21. So ganz versteht sie das Beharrungsvermögen der Befürworter nicht. „Bei Männern muss es einfach groß sein, koste es, was es wolle“, sagt sie augenzwinkernd. „Das war schon bei den Pyramiden so.“
Mit Stuttgart 21 geht der Waldspaziergang zu Ende. Zurück zum Gasthaus der Großmutter, das die Kretschmanns umgebaut haben. Hier haben die Nachbarn mit Kreide Glückwunsch auf die Straße geschrieben. Sie wohnen gern hier in Laiz, in diesem Haus mit seinen alten Möbeln und niederen Decken, in dem die Kinder groß geworden sind, die heute längst aus dem Haus sind. Hier hängt an einem verschwiegenen Ort ein Plakat, das nach dem Willen eines Bietigheimer Schuhfabrikanten mal ein öffentliches Werbeplakat für seine Schuhe hätte werden sollen. Der Ministerpräsident hat das Ansinnen abgelehnt. Er fand den Entwurf aber wohl so witzig, dass er auf dem Klo aufgehängt wurde. Das Plakat zeigt Winfried Kretschmann, der auf festem Schuhwerk sicher ausschreitet, und den knackigen Slogan: „Wahlschlappen tragen die anderen.“ Darüber können die wanderlustigen Kretschmanns lachen.