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Archiv-Artikel

Das Märchen vom Jobmotor

Das gewerkschaftsnahe IMU-Institut nimmt der Gewerkschaft ihr zentrales Argument für ihr Ja zu Stuttgart 21: die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Die Beschäftigungseffekte, bilanziert ein Gutachten des Instituts, scheiden als Argument in der Debatte um S 21 aus

von Josef-Otto Freudenreich

Was begeistert einen Sozialdemokraten und/oder Gewerkschafter mehr als die Nachricht, dass Arbeitsplätze geschaffen werden? Und dann gleich 24.000. Da mussten sie dabei sein, zumal auch noch von Fortschritt, Zukunft und Modernität gesprochen wurde. So formierte sich in den 90er Jahren ein erstaunliches Bündnis aus christdemokratischen Regierenden, Arbeitgebern und Arbeitnehmervertretern, die sich einem Ziel verschrieben hatten: Stuttgart 21, der Jahrhundertchance. Der Protest dagegen, den es schon damals gab, erschien ihnen bedeutungslos beziehungsweise dem Umstand geschuldet, dass die Stockers dieser Stadt einfach nicht begriffen, welches Tor zur Welt hier aufgestoßen werden sollte. Vieles hat sich seitdem verändert, nur die Position der Spitze von SPD und IG Metall nicht.

Für Martin Schwarz-Kocher entsteht daraus eine heikle Lage. Der 52-Jährige ist Geschäftsführer des Stuttgarter IMU-Instituts, das viel mit Gewerkschaften und Betriebsräten zusammenarbeitet und jetzt das Mantra zerpflückt, das Spitzenfunktionäre wie Jörg Hofmann von der IG Metall stets bemühen: die Jobmaschine Stuttgart 21. Das ist nicht ohne Risiko für Schwarz-Kochers Firma, die neben der IG Metall auch die IHK und die Handwerkskammer zu ihren Kunden zählt, und deshalb verwundert seine Erkenntnis nicht, man bewege sich „zwischen den Feuerlinien“. Andererseits, sagt der promovierte Soziologe, habe man „Farbe bekennen“ müssen in dem endlosen Streit. Als Wissenschaftler, der sich auf das verminte Gelände wagt, nüchtern die Faktenlage betrachtet – und dafür kein Geld nimmt. Von keiner Seite. Konsequenterweise ist die 32-seitige Studie („Die Beschäftigungsauswirkungen von Stuttgart 21 auf dem Prüfstand“) aus Eigenmitteln finanziert.

Statt 24.000 nur 2.500 neue Arbeitsplätze

Ihre Kernaussage lautet: Wer von 24.000 Arbeitsplätzen redet, schaut in die Kristallkugel. Schwarz-Kocher spricht von einer „Phantomzahl“. Wer Seriosität für sich in Anspruch nimmt, kann nur von Gewerbeflächen sprechen, auf denen eine solche Zahl von Arbeitsplätzen entstehen könnte. Im „Rahmenplan Stuttgart 21“ von 1997 wird dieser Konjunktiv zwar gewählt, von der Politik jedoch weiträumig ignoriert. Laut IMU-Gutachten stimmt aber auch die zugrunde gelegte Fläche nicht, nachdem das Filetstück A 1 unabhängig von S 21 bebaut wird.

Am Ende, so die Studie, schafft Stuttgart 21 nicht Raum für 24.000, sondern für etwa 2.500 Arbeitsplätze – „und allein durch die Flächen noch keinen einzigen neuen Arbeitsplatz“. Nicht berücksichtigt ist dabei die ungeklärte Frage, wie die Flächen genutzt werden. Soll hinter dem Bahnhof eine einzige Shopping-Mall entstehen inklusive schmucker Versicherungs- und Bankenbauten, oder soll es im Zuge der Reurbanisierung gar eine Green City werden? Im letzteren Fall stünde noch weniger Raum für den „Jobmotor“ zur Verfügung. Darüber hinaus rechnet das IMU mit tatsächlich neu entstehenden Stellen durch städtebauliche Anreize (500 Arbeitsplätze), durch verkürzte Fahrtzeiten und bessere Erreichbarkeit anderer Märkte (500) sowie 350 Jobs während der Bauphase. Fazit des Instituts: Die Beschäftigungseffekte scheiden als Argument in der Debatte um S 21 aus.

Schwarz-Kocher befindet sich damit im scharfen Gegensatz zu einem Gutachten der Uni Karlsruhe, das die schwarz-gelbe Landesregierung im April 2009 präsentiert und mit ihm S 21 als einzigartiges Konjunkturprogramm gepriesen hatte. Darin war zwar nicht mehr von 24.000 Arbeitsplätzen die Rede, aber immerhin noch von 17.000, darunter Tausende von Beschäftigten im öffentlichen Dienst, die sich zu einem wahren Boom auswachsen sollten. Das hatte sich der einstige Mister S 21, Wolfgang Drexler, sofort zu eigen gemacht. Er könne nur nicht genau beziffern, sagte der Sozialdemokrat damals, wie viele Stellen auf den Ballungsraum Stuttgart entfielen. Aber auf jeden Fall würden die heimischen Handwerker bedient.

„Mehr Brezeln und Fleischkäsbrötchen“

Schwer tat sich offensichtlich auch die IHK mit genauen Schätzungen. Angesichts der Brisanz des Themas, hieß es bei den Freunden des Tiefbahnhofs, wolle man sich nicht der Gefahr aussetzen, „dass uns Prognosen nachher um die Ohren gehauen werden“. Auch bei den Freien Wählern wurde nur die Hoffnung geäußert, dass die Bäcker „mehr Brezeln und Fleischkäsbrötchen“ verkaufen. Selbst das älteste Gewerbe der Welt mochte keine Euphorie verbreiten. Der städtische Sachgebietsleiter hatte dafür eine ganz schlichte Erklärung parat: Am Ende des Tages seien die Bauarbeiter „einfach nur müde“.

Um diese speziellen Bedürfnisse hat sich Geschäftsführer Schwarz-Kocher nicht gekümmert. Ihn interessiert vielmehr die Reaktion der IG Metall und dabei besonders jene des Bezirksleiters Jörg Hofmann, der in einer ziemlich unkomfortablen Lage ist. Einerseits gehört der 55-Jährige dem Unterstützerkreis S 21 an, steht unter Druck der Betriebsratsfürsten Erich Klemm (Daimler) und Uwe Hück (Porsche), und andererseits sitzen ihm die Bezirke Aalen, Esslingen und Ludwigsburg im Genick, die vehement gegen den Tiefbahnhof sind. Von den „Gewerkschaftern gegen S 21“, die ihn hartnäckig beharken, nicht zu reden. Aber Hofmann schweigt.

Jürgen Stamm, der frühere Bevollmächtigte der IG Metall, glaubt nicht an Verschwörungstheorien. So nach dem Motto: Hofmann ist Aufsichtsrat bei Daimler, also alles klar. Viel eher erkennt er eine gewisse Gleichgültigkeit an der Spitze seiner Organisation, das Bedürfnis nach Ruhe und natürlich den ungebrochenen Glauben an den Fortschritt. Wohin auch immer. Er selbst gehörte in seiner Amtszeit (1998–2006) zu den Befürwortern von S 21. „Das war ein Fehler“, bekennt Stamm, „ich werfe mir vor, nicht klar dagegen gewesen zu sein“. Heute ist er Stammgast bei den Montagsdemos.

Das IMU-Institut wurde 1981 gegründet. Aufsehen erregte es mit seiner Studie „Stuttgart – Problemregion der 90er Jahre“, in der es einen massiven Arbeitsplatzabbau prognostizierte, der dann auch eintrat. Die Studie „Die Beschäftigungsauswirkungen von Stuttgart 21 auf dem Prüfstand“ kann auf www.kontext-wochenzeitung.de komplett eingesehen werden