: „Theater ist wie ein Darkroom“
LIBIDO Auf der Bühne kann man das Unbewusste von 600 Menschen penetrieren, sagt Yael Ronen, gefeierte Regisseurin am Berliner Gorki Theater. Ein Gespräch über sexlose Paare – und den Druck, abenteuerlustig zu sein
■ 38, wurde in Jerusalem geboren und wuchs in Tel Aviv auf. Ihre Mutter arbeitet dort als Schauspielerin, ihr Vater als Intendant des Israelischen Nationaltheaters. Yael Ronen war seine Regieassistentin und begann 2002, Stücke zu schreiben und vor allem auch im Ausland zu inszenieren. Seit 2013 ist sie Hausregisseurin am Maxim Gorki Theater in Berlin, wo sie mit ihrem Mann, dem Schauspieler Yousef Sweid, und ihrem gemeinsamem Sohn lebt.
GESPRÄCH NATALY BLEUEL FOTO MARA VON KUMMER
Yael Ronen ist eine prägnante Person, ach was, eine Erscheinung: Mit bodenlangem schwarzen Kleid, Lederjacke und roten Blumen im Haar kommt sie ins Café gelaufen, es heißt K-Fetisch und liegt in Berlin-Neukölln. Amy Winehouse, Venus von Botticelli, Rosa Luxemburg wären so Assoziationen. Wenn sie nicht beim Sprechen, offen und unbefangen, diesen leicht glucksenden Ton hätte: Ronen lacht viel.
taz: Yael Ronen, in Ihrem aktuellen Stück „Erotic Crisis“ geht es um Sex. Wie kamen Sie, nach dem Holocaust und dem Balkankrieg, auf diesen Schauplatz?
Yael Ronen: Das Thema beschäftigt uns einfach gerade, mich und meine Schauspieler. Ein paar haben kleine Kinder, ich auch, und so ging es um die Frage: Was passiert mit dem Sex, nachdem du ein Kind bekommen hast? Kommt der nie wieder? Dann gibt es noch ein Paar, das ein paar Jahre zusammen ist – und wo es jetzt ernst wird, versuchen die, über Sex zu reden. Fällt ihnen aber ganz schön schwer. Die fünfte Schauspielerin ist Single, sie spielt auch einen, und was sie so auf Beziehungen projiziert. Wir haben einfach angefangen zu sammeln.
Was haben Sie wo gesammelt?
Themen, Konflikte, Fantasien, Figuren, Storylines. In unserem Alltag, unseren Beziehungen, bei Freunden. Es ist aber nicht so biografisch wie andere meiner Stücke sind, in denen es um die dritte Generation nach dem Holocaust geht oder um den Krieg in Exjugoslawien. Wir haben alles vermischt, denn sich als Schauspieler halbnackt auf eine Bühne zu stellen und vor 600 Leuten seine sexuellen Fantasien auszubreiten – das wäre doch zu heftig.
Wollte Ihr Mann auch wieder auftreten? Er ist Schauspieler.
Unbedingt! Aber das wäre ja eine Paartherapie vor Publikum geworden. Er hat dafür eine sexuelle Fantasie aufgeschrieben und einen Monolog, in dem es um unsere Beziehung geht.
Und was stammt von Ihnen selbst?
Ich stecke in allen Figuren. Fast jeder sieht da etwas gespiegelt, was er gerade in einer Beziehung erlebt. Die Reaktionen im Publikum sind sehr unmittelbar. Ich saß neben einem befreundeten Paar, irgendwann kam ein lustiger Monolog einer Schauspielerin. Und die lachten und lachten – bis die Frau auf der Bühne sagt: „Und jetzt haben wir keinen Sex mehr – gar kei-nen!“ Da war plötzlich Totenstille neben mir. Eingefrorene Körper. Oder als die Frau sich überlegt, warum ihr Mann keinen Sex mehr will, Dutzende von Überlegungen durchgeht und schließlich sagt: „Vielleicht, weil ich einfach zu dick bin, drei Kilo weniger und es läuft wieder!“ Da schrie eine Frau im Publikum: Neeeeeiiiin! Und dann sagt die dünnste Schauspielerin von allen noch das Gleiche – sogar ich wollte ihr am liebsten eine scheuern!
Weil man sich erkannt fühlt?
Eine Frau sagte, sie hätte gern eine App mit dem Text des Stückes. Dann könnte sie beim nächsten Konflikt die passende Stelle abspielen. Yes!
Sie beschreiben erotische Konflikte, aber Auswege zeigen Sie nicht wirklich.
Wir stecken ja auch mittendrin. Mir war das letzte Bild wichtig. Der Text endet mit einem Bruch. Aber dann sieht man die Leute, wie sie sich einrichten. Die einen neu, in getrennten Wohnungen. Die anderen zusammen auf einem Sofa. So ist das doch in Beziehungen: Du denkst, das ist jetzt das Ende, Weltuntergang, alles vorbei. Und dabei sind es immer Phasen im Leben. Es geht weiter. Und wird auch wieder schön. Du verliebst dich wieder. Und kaufst ein neues Sofa.
Könnte es einen „Erotic Crisis“ Teil II geben?
Privat hoffentlich nicht! Aber in ein paar Jahren könnte man durchaus schauen, was aus den Paaren im Stück geworden ist.
Die Soziologin Eva Illouz kritisiert unsere Ambivalenzen in der Wahlfreiheit: Wir sind heute ökonomisch und moralisch freier, können so viele Partner wählen, wie wir wollen, wählen aber tendenziell meistens dieselbe Beziehungsform: seriell monogam.
Finde ich nicht. Es gibt viele Formen und im Stück flirten wir zumindest mit ihnen: bisexuelle Sehnsüchte, offene Beziehungen, Ménage a trois, homosexuelle Annäherungsversuche, gar keine Beziehung. Oder die Erwartung, dass du alles ausprobieren wollen sollst. Diese Wolke hängt ja über einem Paar.
Die wirkt oft bedrohlich.
Gerade wenn es in der Beziehung kriselt. Zwei können nicht über Sex reden – und fangen dann Affären an. So was geht total in die Hose. Und es ist eine Spiegelung der Dinge, die in der Gesellschaft herumschwirren. Neben dem konservativen Hetero-Modell gibt es eben dieses Berlin-Berghain-Ding: den Druck, sexuell abenteuerlustig zu sein. Ich kenne ein Paar, die sind sehr jung und haben geheiratet. In dieser Welt ist das das größere Tabu. Da heißt es: Die haben sie nicht mehr alle!
Im Stück gibt es ein israelisch-deutsches Paar, dessen kulturelle Hintergründe nicht thematisiert werden. Anders als in der „Dritten Generation“, wo es nur darum ging, wie sich israelische oder amerikanische Juden, muslimische oder christliche Araber und atheistische Ost- oder alternative Westdeutsche verstehen können.
In „Erotic Crisis“ – und in Beziehungen – geht es eben um zwei Menschen. Liebe, Sex, Intimität. Das gefällt mir hier, und so ist das ja auch bei meinem Mann und mir: Jeder würde erwarten, dass unsere Konflikte – ich als jüdische Israelin, er als christlich-arabischer Israeli – interkulturelle wären. Sind sie aber nicht. Nicht nur und nicht andauernd.
Wie haben Sie Ihren Mann kennen gelernt?
Yousef Sweid hat in meinem Stück „Plonter“ mitgespielt. Das bedeutet „verworren“ und es geht um zwei Familien – eine jüdische, eine palästinensische –, die sich bei einem Abendessen trotz besten Willens in ihren Klischees verheddern. Das machten wir auch mit jüdisch-arabischen Schauspielern, in Tel Aviv. Ich erarbeite ein Thema meistens mit Schauspielern anhand persönlicher Geschichten.
So war es auch in „Hakoah Wien“, da geht es um Ihren österreichischen Großvater.
„Hakoah Wien“ ist die Kombination aus der Geschichte meines Großvaters und der meines Bruders. Mein Großvater war Österreicher und Zionist. Er ging um 1936 als Erster aus seiner Familie nach Israel. Der Rest musste fliehen, fast alle haben es geschafft zu überleben. Im Stück nun spielt ein junger Mann Fußball – in Österreich, im jüdischen Verein SC Hakoah Wien. Auf der Uni beginnt er, sich mit der Idee des Zionismus zu identifizieren. Die wird ihn von seinem bourgeoisen Komfort in der Stadt mitten in die Wüste führen – und dort einen Staat mitgründen lassen. Zu diesem entwickelt er eine Hassliebe: Anfangs fühlt sich jener Staat an wie eine neue Heimat. Dann verändert er sich sehr zum Negativen.
Welche Rolle spielt Ihr Bruder da?
Michael ist Schauspieler und Regisseur, er spielt in dem Stück auch seine eigene Geschichte. Nach seinem Militärdienst in Israel ging er nach Europa und wollte sich dort den österreichischen Pass besorgen. Als wir mit der Behördenarbeit anfingen, sagte mein Großvater: So lang ich lebe, kriegst du diese Papiere nicht! Es wäre das Eingeständnis einer Fehlentwicklung gewesen. Jetzt ist er tot, beide Enkel haben sein gelobtes Land verlassen und österreichische Pässe.
Was hat Sie hierher gezogen?
Wir tourten mit „Plonter“ durch Deutschland, ich konnte in Dresden und Berlin Stücke entwickeln, wir tourten mit der „Dritten Generation“ durch Europa – ich habe hier in drei Jahren mehr gemacht als zu Hause in Israel.
Da leitet Ihr Vater das Nationaltheater in Tel Aviv, Ihre Mutter arbeitete als Schauspielerin.
Und ich bin jetzt Hausregisseurin am Gorki Theater in Berlin. Das ist meine neue Heimat.
Das Gorki Theater wurde zum Theater des Jahres gewählt. In seinem ersten Jahr hat es sich, finde ich, gewandelt. Vom Fokus Migration und Identitätszuschreibungen hin zu Universellerem: Die zweite Spielzeit begann mit Gewalt und Sex.
Das spiegelt einen Fortschritt, den ich auch in der Gesellschaft sehe, zumindest in Berlin.
Sind Sie jetzt Berlinerin?
Ich habe mir noch nicht ganz eingestanden, dass wir jetzt hier leben. Aber wenn mein Sohn in die Schule kommt, müssen wir uns entscheiden. Er spricht Deutsch und ist happy in der Kita.
Welche Sprache sprechen Sie zu Hause?
Hebräisch, mein Mann ist als Kind christlich-arabischer Eltern in Haifa auf eine jüdische Schule gegangen. Er spricht akzentfrei, man könnte ihn für einen Juden halten. Mit unserem Sohn spricht er jetzt in Berlin auch öfter Arabisch, in Tel Aviv war das eher unangenehm.
In Tel Aviv, sagen die beiden Starköche Ottolenghi und Tamimi aus Erfahrung, sei es einfacher, schwuler Vater von zwei Kindern zu sein – als arabisch sprechender Muslim.
Und in Berlin ging mein Mann mit unserem Sohn in einen Laden von Palästinensern – und der Kleine antwortete auf Hebräisch.
In Ihren Stücken wird oft Englisch gesprochen.
Manchen Leuten fällt das nicht mal mehr auf. Das Theater kann eben die Realität spiegeln. Es ist meine Muttersprache.
Was meinen Sie damit?
Ich glaube, das Theater hat eine Macht. Es ist wie ein Darkroom, in dem du das Unbewusste von 600 Menschen penetrieren kannst.
Das klingt heavy.
Es klingt vielleicht überheblich, aber ich finde, es ist das Gegenteil: Bei den letzten Produktionen ging es mir nicht darum, Kunst zu machen. Das ist mir zu prätentiös. Die Arbeit ist für mich ein Werkzeug – für eine Art Massentherapie.
Manche sprachen von „Theaterereignissen“.
Kunst passiert. Aber man sollte nicht versuchen, sie zu machen. Ich will nicht zeigen, wie ich die Welt sehe. Ich will niemanden manipulieren, das ist einfach von der Bühne herab – ich will die Menschen verstehen.
Verstehen Sie sich als Heilerin?
Das Theater kann eine heilende Kraft haben, wenn wir uns ernsthaft mit dem auseinandersetzen, was uns beschäftigt. Zu Beginn der Arbeit frage ich die Schauspieler: Worum soll es in dem Stück gehen? Und: Wenn das Stück ein Zauberstab wäre, was sollte es in eurem Leben ändern oder heilen?
Welche Schauspieler wählen Sie dafür aus?
Ich versuche, die Schauspieler zu entdecken, die sich in eine solche Arbeitsweise einbringen wollen. Sie ist sehr fordernd und hat einen Preis. Denn man kann oft nicht mehr unterscheiden zwischen dem Privatleben und der Figur, die man spielt. Die nimmst du mit nach Hause, wie in einer intensiven Therapie. Noch dazu in einer, die sich nicht nur mit dir selbst beschäftigt, sondern auch mit deiner Figur.
Irgendwie ein leicht schizoider Balanceakt.
Am Ende von „Erotic Crisis“ waren wir alle total erschöpft. Wir wollten eine Komödie machen und landeten dann im Drama, mittendrin kippte es. Von außen sehen manche Szenen lustig aus. Aber wenn du drinsteckst, reagierst du körperlich. Ich musste nach den ersten Aufführungen nach Luft schnappen, und je mehr Abstand ich bekam, desto öfter dachte ich: Oh Gott, was haben wir durchgemacht?
Wie gehen Sie dann mit Kritik um?
Die deutschen Kritiken verstehe ich eh nicht und eigentlich sind sie mir egal. Es geht darum, was die Schauspieler durchmachen, und die Zuschauer. Wenn die Resonanz so unmittelbar ist wie die Lacher, das Erstarren, die Schreie, ist das für mich ein Erfolg.
Sie proben keinen fertigen Text, sondern erarbeiten ihn gemeinsam. Wie lange dauert das?
Diesmal hatten wir bloß siebeneinhalb Wochen. In den ersten zwei, drei Wochen haben wir nur miteinander geredet, auch mal meditiert oder Massagen gemacht. Für „Common Ground“ sind wir gemeinsam nach Bosnien gereist, für die „Dritte Generation“ nach Israel. Man muss sich sicher fühlen, um so in sich und aus sich heraus gehen zu können.
Schreiben Sie nach der Gruppenarbeit noch an Stücken?
Ja, und in den Pausen dazwischen. Allerdings haben die Schauspieler auch viel selbst geschrieben. Manches wurde improvisiert, manches waren Aufgaben von mir.
Wie packen Sie Arbeit und Kind in solchen Zeiten?
Nicht so gut. Aber ich habe einen Mann, der diesen Beruf mit mir teilt. Wir wechseln uns ab, und das ist normal für unser Kind. Bevor ich mit diesem Projekt anfing, drehte er zwei Monate in Israel, ich war allein mit unserem Sohn. Für das nächste Stück gehe ich nach Graz, da werde ich die beiden leider nicht oft sehen. In Israel wäre das anders, da sind die Entfernungen nicht so groß. Dieses Jahr werde ich dreieinhalb Produktionen gemacht haben, das ist schon hart an der Grenze.
Hart an der Grenze zum Burn-out?
Schon das Wort! Habe ich zum ersten Mal in Deutschland gehört.
Wie sagt man denn in Israel dazu?
Es gibt diesen Wert gar nicht: dass man so ehrgeizig und perfektionistisch ist, dass man bis zum Umfallen arbeitet. Natürlich haben wir Workoholics. Aber ihr in Deutschland versucht ja, irgendetwas zu beweisen. Wenn du nicht beschäftigt bist, dann versucht du zumindest so zu wirken. In Israel ist es völlig okay, tagsüber in einem Café rumzusitzen und nichts zu tun. Zu haben.
Ist Ihre arabisch-jüdische Beziehung dort eigentlich ein Thema?
Alle tun so, als wäre es keines. Es gibt nicht viele Paare wie uns, und unsere Familien akzeptieren es total. Aber im weiteren Umfeld, beispielsweise im Theater, wo alle so liberal tun – da schon, ja. Für unseren Sohn wäre es in der Hinsicht einfacher, in Berlin-Neukölln aufzuwachsen. Vor allem, wenn die politische Situation in Israel so bleibt. Seit dem Gazakrieg würde es sich ganz falsch anfühlen, zurückzugehen.
Wie sehen das Ihre Eltern?
Es ist blöd für sie, dass ihre beiden Kinder so weit weg sind, in Berlin. Aber so haben sie immerhin auch eine Alternative, wenn sie mal die Flucht ergreifen wollen.
Nach Berlin zieht es weiterhin viele junge Israelis.
Mittlerweile habe ich hier mehr israelische Freunde als in Tel Aviv. Das hat auch ökonomische Gründe: Berlin ist billiger und Künstler bekommen mehr Raum.
Manche warnen deshalb vor einem regelrechten Braindrain aus Israel.
Das ist der Preis: Wenn man so lange eine so schlechte nationalistische Regierung hat, dann geben die guten Leute irgendwann auf. Aber vielleicht sind wir dann auch gar nicht so gut.
Wieso nicht?
Eben weil wir aufgeben.
Und das wird sich nicht ändern?
Na gut: Vielleicht wird die Idee der Nation eines Tages als altmodisch erkannt. Und nur eine Phase in der Geschichte gewesen sein. Wie in „Erotic Crisis“, wo es heißt: Es ist nur eine Phase, die wird sich von selbst erledigen.
Irgendwann sitzt man zusammen auf einem neuen Sofa?
Oder auf einem Diwan.
■ Nataly Bleuel, 46, freie Autorin in Berlin, fand Theater schon lange nicht mehr so geil ■ Mara von Kummer, 37, freie Fotografin in Berlin, findet Krisen manchmal auch okay