piwik no script img

Archiv-Artikel

„Ich wollte raus“

HAUSBESUCH Tanzen ist ihre Leidenschaft. Trotz – oder wegen ihrer Körperbehinderung. Bei Bea Remark am Bodensee

VON LENA MÜSSIGMANN (TEXT) UND PATRICK PFEIFFER (FOTOS)

Bodman, am nordwestlichen Rand des Bodensees. Zu Besuch bei Bea Carolina Remark (50).

Draußen: Ein Mehrfamilienhaus von 2007, höher als alle umliegenden, apricotfarben. Oben am Giebel ein Balkon. Er gehört zur Wohnung von Bea Remark und ihrem Freund Stefan Sailer.

Drin: Dunkler Holzboden, weiße Wände. Im Wohnzimmer ein langer Esstisch, eine große Couch, durch die Glasfront grandiose Aussicht auf den See. Fernseherersatz. Vom Flur gehen die Zimmer von Bea und Stefan ab, sie schlafen getrennt. In Beas Zimmer stehen auf dem Boden Hanteln, eine Meditationsschale. Entspannung ist ihr wichtig. Bea Remark ist seit ihrer Geburt spastisch gelähmt. Ihre Beine sind von der Lähmung am stärksten betroffen, ihr linkes Bein ist nach innen geneigt.

Bea: „Ich bin im sechsten Monat auf die Welt gekommen und fast gestorben“, sagt sie. Sie wog nur 1,5 Kilo und lag lange im Brutkasten. Nach drei Jahren stellen Ärzte fest, was das Kind hat: eine Tetraspastik. Ihre Muskeln bekommen falsche Impulse. Bea lernt erst mit sechs oder sieben Jahren laufen. Eine Szene, die für ihre Kindheit steht: Die Mutter hat sie im Park unter einen Baum gesetzt und vergessen. Die Mutter sagte: „Die braucht nicht in ein Körperbehindertenzentrum“, und schickt sie auf die Regelschule. Bea merkt zum ersten Mal, dass sie anders ist („Ich kam nicht so schnell hinterher“). Sie macht ihren Realschulabschluss, will Erzieherin werden („Keine Chance. Wegen der Behinderung. Weil du flink sein musst“). Sie lernt Arzthelferin. Mit 18 zieht sie zu Hause aus, will selbstständig sein, lebt in WGs. Vor 26 Jahren kam sie an den Bodensee und fing im Schulamt an („Mein Brotverdienst. Statistik, Personalsachbearbeitung. Ich mach’s gern“).

Tanzen: Tanzen ist ihre Leidenschaft. Sie hat sich zur Tanztherapeutin ausbilden lassen. Dance Ability heißt die Tanzform, die sie begeistert. Tanzen mit Behinderung („Wie kann ich Choreografien mit Leuten umsetzen, die anders sind?“). Sie leitet Workshops und will ihren Bürojob um einen Tag reduzieren. Aufgeben will sie ihn nicht („Wenn eine Selbstständigkeit schiefgeht, können andere kellnern gehen. Für mich gibt es nicht so viel, was ich im Notfall machen kann“).

Alltag: Um halb sechs klingelt der Wecker. Sie liest Zeitung und trinkt Kaffee. Dann fährt sie 40 Minuten mit dem Auto zur Arbeit. Im Winter kocht sie gerne. Im Sommer geht sie oft mit ihrem Freund zum Picknick auf den See („Er hat ein Boot, einen alten Jollenkreuzer“).

Was denkt sie? Sie fordert, dass mehr Kinder mit Behinderung eine Regelschule besuchen können („Für mich war’s super. Ich wollte raus“). Aber Inklusion habe Grenzen: „Ich könnte Ballett machen, wenn mir ein sonderpädagogischer Helfer den Fuß hält, ja. Aber da wird’s grotesk.“ Sie geht in Schulen und redet mit Schülern über ihre Körperbehinderung. Einmal wurde sie gefragt: Wenn du die Behinderung wegzaubern könntest, würdest du’s machen? Sie sagte: „Ich weiß nicht. Ich wär nicht die Bea, die ich heute bin. Aber einen Tag ohne, das wär toll. Mal tanzen, wie ich will.“ Beas Mutter hat nie mit ihr über die Behinderung gesprochen, hat ihr immer signalisiert: Du bist doch normal. Bea sagt: „Das stimmt so nicht.“ Die Behinderung anzuerkennen bedeute erst mal Schmerz. Er holt sie manchmal noch ein. Auf einer Weiterbildung hat sie mit zwei Spastikern getanzt. Bea sagt: „Ich war zum ersten Mal mit meinem Spiegelbild konfrontiert und dacht mir: Scheiße, so sieht das aus?“ Sie ist doppelt geschockt. Von diesem Anblick. Und von ihrer Reaktion. „Ich will aus dem Widerstand rauskommen. Ich will nicht hadern. Ich will das jetzt annehmen.“

Liebe: Vor neun Jahren hat Bea ihren Freund Stefan, 44 und Werkzeugmachermeister, in einer Bar kennengelernt. Er überragt Bea fast um einen halben Meter. Sie saß schon, als er sich neben sie gesetzt hat. Sie haben lange gesprochen. Bea stand erst bei der Verabschiedung auf. „Ich war überrascht, dass sie gehbehindert ist“, sagt Stefan. „Er geht wunderbar mit meiner Behinderung um“, sagt Bea. Er nimmt sie mit aufs Boot, mit zum Wandern („Ich hab vergessen, dass sie behindert ist“). Zuvor hat sie sich bei niemandem sicher genug gefühlt. In den langen Jahren, die sie in WGs gelebt hat, sei sie sich ausgewichen. „In einer Beziehung kommt man am nächsten an sich selber ran.“ Da ist sie jetzt.

Wie findet sie Merkel? „Sehr diplomatisch. Aber sie zeigt sich persönlich wenig. Das macht sie für mich unlebendig.“

Wann ist sie glücklich? „An meinem Fest. Ich hab meinen 50er gefeiert. 120 Leute waren da. Ich freu mich über so viele Freunde.“

Zu Besuch: Sollen wir auch mal zu Ihnen kommen? Schicken Sie eine Mail an hausbesuch@taz.de