: Im Gezwitscher der Erinnerung
LYRIK Ulrike Draesner lauscht dem Gesang der Vögel und entdeckt den „Subsong“ der Vergangenheit
VON BJÖRN HAYER
Wer heute der Welt etwas zu sagen hat, der zwitschert, genauer: twittert. Dass dem Vogelgesang angesichts all der Banalitäten und Quatschereien, die in seinem Namen durch das Netz flottieren, längst wieder eine Ehrenrettung gebührt, hat die 1962 in München geborene Autorin Ulrike Draesner indes erkannt und ihm eine musikalische Hommage gewidmet. Der Band „Subsong“, ein Konglomerat aus „Rufen und plappernden Lautserien“, das vor allem von freien Tonübungen der Jungvögel herrührt, ist dabei keineswegs nur für Ornithologen gedacht. Im Gegenteil: Die Poetin entdeckt im Gezirpe der Luft eine vitale Lebenspoesie, flüchtig und von ungehaltener Fabulierlust.
Als spazierte man durch einen Park, strömen von überallher Klangfetzen und Beobachtungen: „will dich hegen“, meint eine besorgte Mutter zu ihrem Kind, das sie ungern am ersten Schultag loslässt. „taumel der trennung“ lässt den Unmut über den vergessenen Hochzeitstag verspüren oder schaut unter „feine[m] regen am berg / in die sonne“ oder folgt einsam den „kaninchenspuren im / schnee“.
Wahrnehmungen schieben sich wie schon in ihren Gedichtbänden „berührte orte“ (2008) und „kugelblitz“ (2005) permanent ineinander. Und wenn dann noch unversehens ein „dakar […] / aus dem neunten jahrhundert herbei[reitet]“, entfalten die poetischen Schnappschüsse eine surreal-prophetische Wirkung, lassen Fiktion und Realität, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem Augenblick eins werden.
Die Lieder der Vögel
Um den Solo- und Chorstimmen der Himmelsbewohner wie dem Hornraben, dem Kuckuck oder Papagei, die den Gedichten zumeist mit ihren typischen Tonsilben voranstehen, gerecht zu werden, hat die promovierte Germanistin immer wieder die Lieder der Vögel aufgenommen, transkribiert und mit eigenen Worten und Anekdoten verwoben. So ist ein dichtes Ensemble aus Trällereien entstanden, deren Komplexität und Hermetik jedoch irritieren. Sinnbildlich bringt der Text „wulkan“ die assoziations- und gedankenreichen Kaskaden zum Ausdruck: Gleich einem Lavafluss überwältigt uns ein Bildergeröll, das von „fotos / von kindstaufen“, Straßenbahnfahrten, über Erinnerungen an Vater und Großmutter bis zur Imagination eines Tête-à-Tête in „europäischem gras“ reicht. Jedwedes Aufschimmern von Besinnung droht im Rausch der Beobachtungen zu verebben.
Nichtsdestotrotz gibt es stets auch Anker, woran es sich festzuhalten lohnt. Insbesondere dort, wo Draesner uns ganz persönliche Einblicke etwa in das Album ihrer Kindheit oder den eigenen Stammbaum bietet, gewinnt ihr Buch an Intensität. Selbst im Gesteinswurf des „wulkan[s]“ findet sich liebenswertes Kleinod über die Migrationsgeschichte ihrer Familie. Nachdem die Autorin bereits mit ihrem Debüt „gedächtnisschleifen“ (1995) dem Gedächtnis geradezu einen leitmotivischen Rang innerhalb ihres Werks einräumte und die Vertreibung ihres Vaters, eines Schlesienflüchtlings, in ihrem letzten Roman „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ verarbeitete, tauchen nun erneut Anleihen der eigenen Herkunft immer wieder in nostalgischen Momenten auf. „wo ist / einer wenn er fort ist wie / jetzt so lange schon“, fragt das Lyrische Ich einmal angesichts einer Jugend im perdue. Stückwerk über eine entfremdete Mutter, verwaistes Material, dem man nur noch in der Poesie halbwegs habhaft wird.
Sprache heißt Suche, Ausweg, aber stets auch Unbestimmtheit und Verlorensein. Die Fremdheit bildet daher eine Grunderfahrung in allen Werken Draesners. So überrascht es auch kaum, dass sowohl das englische als auch das teils völlig frei erfundene, dadaistische Vokabular in den Subsongs allgegenwärtig erscheint. Nur indem die Vogelflüsterin Altes und Neues mal bewusst schief, dann wieder durchaus melancholisch verzahnt, entzieht sich ihre Poetik einer musealen Aufbewahrung. Die Erinnerungen sind wie der Singsang ihrer gefiederten Zeitgenossen ganz im Hier und Heute aufgehoben.
Beides mag für uns nie ganz durchdringbar sein. Für Draesner stellen sie eine heilige Allianz dar, deren Rätselhaftigkeit uns antreibt. Nicht allein zum Lesen, sondern zum Hineinhorchen in uns selbst, zum Erfassen der tausend Stimmen, die auch wir tagtäglich in uns vernehmen. Denn „Subsong“ lehrt allen voran das innere Hören, vielfältig und echohaft.
■ Ulrike
Draesner:
„Subsong“. Luchterhand Verlag, München 2014, 240 Seiten, 18,99 Euro