: Falsche Erinnerungen
DEPORTIERT VERSUS REKRUTIERT Der Dramatiker Armand Gatti war nie im KZ Neuengamme inhaftiert
Der 1924 geborene Dramatiker, Journalist, Theater- und Filmregisseur Armand Gatti genießt in Frankreich – zu Recht – einen guten Ruf. Seine Dramen „V wie Vietnam“, „Die zweite Existenz des Lagers Tatenberg“, „General Francos Leidensweg“ sowie das „Kleine Handbuch der Stadtguerilla“ sind Ende der 60er Jahren auch auf Deutsch erschienen. De Gaulle ließ das Stück über Franco – auf dessen Wunsch und gegen den Rat seines Kulturministers André Malraux – in Frankreich verbieten. Deutsche Programmkinos zeigten einige seiner Filme. „L’Enclos“ gewann 1961 den Preis der Filmkritik beim Festival in Cannes. Nach 1968 brach Gatti mit dem etablierten Theaterbetrieb und arbeitete mit freien Gruppen, die in kollektiven Produktionsformen dem politischen Theater ein neues Gesicht gaben. Er inszenierte in Berlin, Paris, Avignon und Genua ebenso wie in London und Dublin. Das Ziel seines Theaters war immer, das aufzubrechen, was gerade als „historische Wahrheit“ galt.
Theater in Neuengamme
Genau mit diesem Anspruch bekommt der 87-Jährige jetzt ein Problem. Zuletzt 1980, im Gespräch mit dem Journalisten Marc Kravetz, erzählte er von seiner Verhaftung und Deportation ins KZ Neuengamme. Dort fand er „für immer“ zum Theater, nachdem er das Stück mit dem Titel „Ich bin. Ich war. Ich werde sein“ gesehen hatte, das eine Gruppe baltischer Häftlinge aufführte. Er beschwor diese Erfahrung immer wieder als schlechthin fundamentales Erlebnis für sein künstlerisches Schaffen.
Gatti entstammt einer jüdisch-italienisch-russischen Familie. Der Vater, ein Straßenkehrer und bekennender Anarchist, kam 1939 bei einem Zusammenstoß von Streikenden mit der Polizei ums Leben. Der erst 17-jährige Armand schloss sich 1942 der Résistance an und wurde verhaftet. Das Todesurteil wurde in Zwangsarbeit umgewandelt. Als Zwangsarbeiter kam er 1943 nach Hamburg.
Die Historikerin Janine Grassin und die Journalistin Brigitte Salino (Le Monde, 25. 7. 2011) fanden nun heraus, dass Gattis Behauptung, er sei ins Konzentrationslager Neuengamme verschleppt worden, nicht stimmt. Janine Grassin ist Präsidentin des Vereins ehemaliger Häftlinge im KZ Neuengamme und kann nachweisen, dass Gatti wahrscheinlich auf Veranlassung des französischen Service du travail obligatoire (STO) – des Zwangsarbeitsdienstes, der Arbeiter für Deutschland aushob – in Hamburg war, aber eben nicht als Häftling im KZ Neuengamme, sondern als Zwangsarbeiter beim Schiffsbau.
Der Titel „Deportierter“
Auf die Bitte von Janine Grassin, sich nicht länger mit „dem Titel Deportierter“ zu schmücken, denn der sei juristisch genau definiert und obendrein gegen jede Usurpation schützenswert, antwortete Gatti unglücklich ausweichend: „Ich bin nie im Lager Neuengamme gewesen, aber ich habe oft erzählt, dass ich mich in der Nähe von Neuengamme in einem Arbeitslager aufgehalten habe. Ich habe daran noch lebendige Erinnerungen, und die sind etwas ganz anderes als die Erinnerung des Enkels von Lindemann“, also des Firmenbesitzers.
Der Enkel bestritt, die Firma seines Großvaters habe etwas mit „der Leitung des KZs Neuengamme oder einem anderen Lager“ zu tun gehabt. Gatti besteht darauf, seine Erinnerungen besäßen nicht „weniger Wert als die eines Enkels eines deutschen Unternehmers, der Zwangsarbeiter beschäftigte.“
Der Verein der ehemaligen Häftlinge des KZ Neuengamme nahm dies als „Antwort zur Kenntnis“ und versicherte dem ehemaligen Widerstandskämpfer und Theatermann seinen uneingeschränkten Respekt. Janine Grassin betonte, dass es ihr nicht darum gehe, „Gatti durch Nachfragen zu seiner Vergangenheit zu belasten, sondern darum, die historische Wahrheit wiederherzustellen“.
Offen bleibt die Frage, wie Armand Gatti nach Hamburg kam und ob es der Zwangsarbeitsdienst war, der die Deportation veranlasste. RUDOLF WALTHER