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Archiv-Artikel

Die Fischer und die Fabrik

Bedenken gab es schon früher, doch seit dem Unglück in Japan haben sich diese in Widerstand verwandelt: Wie ein Fischerdorf in Indien zum Kampf gegen das größte AKW der Welt rüstet

„Wir müssen die Fabrik stoppen“, sagt Sayekar. Das Hindi-Wort für Atomkraftwerk kennt er nicht

AUS SAKHRI NATE GEORG BLUME

Abdul Sayekar besitzt nur noch ein Passfoto von seinem Sohn. Der 55-jährige Fischer hat das Bild sorgfältig auf einen grünen Plastikuntersetzer geheftet und diesen auf den Küchenboden gelegt. Dann knien der Fischer, seine Frau und drei Tanten gemeinsam vor dem Foto und beten, die Frauen singen Koranverse und weinen. Sayekar sagt, sie tun das jeden Morgen seit dem 18. April. An diesem Tag erschoss die Polizei den 30-jährigen Tabrez Sayekar mit drei Kugeln, die laut Polizeibericht in Herz, Lunge und Leber eindrangen. Es war der Tag, an dem die Bewohner des kleinen Fischerdorfs Sakhri Nate am Arabischen Meer das erste Mal in ihrem Leben gegen Atomkraft demonstrierten.

Nur einen Fußmarsch von ihrem Dorf entfernt wollen die indische Regierung und der französische AKW-Hersteller Areva in den nächsten Jahren die größte Atomanlage der Welt mit einer Leistung von 10.000 Megawatt bauen. Noch im letzten Dezember vereinbarten der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy und der indische Premierminister Manmohan Singh in Delhi eine umfangreiche Zusammenarbeit bei der Atomenergie. Das Riesenprojekt in Jaitapur, dem Nachbarort von Sakhri Nate, zählt dazu. Deshalb warfen die Fischer am 18. April Steine auf eine mit Elitepolizisten der indischen Zentralregierung besetzte Polizeistation in Sakhri Nate. Da wehrten sich die Polizisten, und nun ist Tabrez tot.

Abdul Sayekar trägt unter dem Fez ein abgenutztes kariertes Hemd und ein Tuch um die Lenden. Er ist unrasiert, seine Haut braun gegerbt von Sonne und Wind. Er muss dieser Tage nicht fischen, weil ihm gleich drei Oppositionsparteien in Delhi Entschädigungen in Höhe von umgerechnet 6.000 Euro zahlten. Vor dem Tod seines Sohns aber fuhr er dreißig Jahre täglich aufs Meer hinaus, um den Familienunterhalt zu verdienen. „In den 30 Jahren hatte sich hier nichts verändert“, sagt Sayekar. „Es gab immer genug Fische.“ Es klingt, als wäre er damals ein zufriedener Mann gewesen.

Das gute Leben in Sakhri Nate gibt es auch heute noch. Sayekar besitzt ein Ziegelhaus mit zwei Zimmern und Küche unter einem mit Palmenblättern bedeckten Dach. Wortkarg, aber mit einladenden Blicken zeigt er sein kleines Anwesen und die vielen Fische in den Aluminiumeimern in der Küche. Täglich kann seine Familie frischen Fisch essen. Die Küstenregion ist gesegnet mit einem der reichsten Fischvorkommen Indiens. Damit versorgt das Dorf viele Kunden im nördlich gelegenen Mumbai und im südlichen Goa. Wird es demnächst die Metropolen mit Atomstrom versorgen?

„Die Fabrik ist schuld“

Sayekar ist keiner, der von sich glaubt, solche Fragen beantworten zu können. Aber seit dem Tod seines Sohns denkt er über Dinge nach, die ihn zuvor noch nie beschäftigt haben. „Nicht die Polizei ist schuld am Tod meines Sohns, sondern die Fabrik. Wir müssen die Fabrik stoppen“, sagt Sayekar. Das Hindi-Wort für Atomkraftwerk kennt er nicht. Deshalb redet er von der „Fabrik“.

Sayekar ist unterwegs zum Hafen. Er will Netze holen, die er daheim repariert, um nicht untätig zu sein. Sein Dorf liegt unter Palmen und Mangobäumen geschützt am Hang einer Küstenhochebene. Dort oben soll einmal die Atomanlage stehen. Der Fischer passiert die einem Leuchtturm ähnelnde weiße Moschee des Dorfs, den belebten Marktplatz und eine enge Gasse. Überall grüßen ihn die Leute. Sie tun das in Anerkennung für seinen verstorbenen Sohn. Seit den Schüssen vom 18. April ist die Dorfgemeinschaft zusammengerückt.

Sayekar erreicht den Hafen. Vor ihm liegen zwei hölzerne Schiffswerften, auf denen Zimmerer mit Holznägeln und Leim neue Fischkutter bauen. Der Kutter, von dem Sayekar jetzt ein Netz holt, sieht genauso aus, nur alt und abgenutzt. „Er ist schon drei Jahre alt“, sagt der Fischer. So schnell nutzten sich die Schiffe ab und schaffen Bedarf für neue.

Die Schiffszimmerer von Sakhri Nate haben Arbeit genug. Einer von ihnen erinnert sich noch, wie vor ein paar Jahren der Industrieminister des Bundesstaats Maharashtra zu ihnen kam, um die AKW-Baupläne für die Hochebene über dem Dorf bekannt zu geben. „Werdet Ingenieure!“, rief der Minister den Dorfbewohnern zu. Doch Sameer Bhatkar hörte schon damals weg. „Nur Universitätsabgänger finden als Ingenieure Arbeit in der Fabrik. Aber nicht wir“, sagt er. Auch Bathkar spricht vom AKW als „Fabrik“. Aus seiner Rede geht hervor, dass die Dorfbewohner schon vor der Atomkatastrophe in Fukushima Bedenken gegen den Atombau vor ihrer Haustür hegten. Ihr Widerstand aber begann erst, als die Neuigkeiten aus Fukushima das Dorf erreichten.

An diesem Morgen setzen sich Fischer und Zimmerer auf die Kaimauer und zeigen sich gegenseitig ihre inzwischen verheilten Wunden an Wade und Oberarm. Die Kinder im Hafen schließen sich an, rollen Ärmel und Hosen hoch – für sie ist es ein Vergnügen. Denn jeder ist stolz, wenn er noch eine Narbe von dem Tag trägt, an dem Tabrez starb. „Mein Sohn ist heute ein Märtyrer“, sagt Sayekar. Er kann zwar noch nicht mit den Kindern lachen, aber ihr naives Heldengebaren gefällt ihm.

Zurück im Dorf macht Sayekar in der Teebar auf dem Marktplatz halt. Dort sammeln sich zur Mittagszeit die Fischer. Sie bilden einen Spalt, um Sayekar an einem der weißen Betontische neben der Teeküche Platz nehmen zu lassen. Sayekar wirft das Netz unter den Tisch. Kurz darauf setzt sich ihm der Imam des Dorfs zur Seite.

Mansoor Solkar trägt eine weiße Kutte. Er ist ein junger, agiler Mann mit Vollbart und spricht sofort auf Sayekar ein: „Tausende stehen bereit, sich wie dein Sohn für die Sache zu opfern“, sagt er. Der Imam will dem Fischer vermitteln, dass andere sein Schicksal teilen. Sayekar scheint das gutzutun. Aufrecht sitzend schlürft er süßen Milchtee.

Der Imam spricht zu den Umstehenden: „Wir hatten immer den Verdacht, dass die Atomkraft böse ist. Fukushima hat das bewiesen. Deshalb ist es gut, dass Gott Fukushima geschehen ließ“, sagt Solkar. Der Geistliche leistet Überzeugungsarbeit. Er berichtet den Fischern, die es von ihm sicher schon öfter gehört haben, wie ihrem Dorf nach dem Atomunfall in Japan Unterstützung aus dem ganzen Land zuteilwurde. Hinduisten, Kommunisten, linke Studenten, Intellektuelle und Wissenschaftler – alle seien nach Sakhri Nate gekommen, um den Fischern die Risiken der Atomkraft samt der relativ hohen Gefahr von Erdbeben und Tsunami in ihrer Gegend zu erklären. Er erzählt, wie einige Aktivisten aus Mumbai einen Protestmarsch nach Sakhri Nate unternahmen, bei dessen Ankunft 50.000 Menschen aus der Gegend friedlich demonstrierten. In der Teebar klebt noch ein Anschlag für die Demo.

„Unser Fisch wird zu Gift“

Bald entbrennt unter den Fischern eine lebhafte Diskussion. Der Imam ist ihr Anführer, aber alle wollen ein Wort mitreden. „Vor ein paar Jahren hattet ihr alle noch keine Ahnung!“, sagt einer. „Ich habe euch schon bei dem großen Tsunami von 2004 gesagt, dass das auch für uns gefährlich werden kann“, sagt ein anderer. Der dritte in der Runde dichtet: „Das Meer nährt unseren Bauch und der Bauch unsere Existenz. Wir dürfen das Meer nicht verseuchen.“

Sayekar verfolgt das Gespräch aufmerksam mit. In der Küche daheim fasst er seine Gedanken zusammen: „Wir wissen jetzt, dass wir die Fabrik nicht brauchen. Unser Fisch wird zu Gift werden. Was den Fischern in Fukushima passiert ist, wird auch uns passieren. Unsere Fabrik soll sogar noch größer werden als die in Fukushima“, sagt Sayekar. Eine konkrete Vorstellung von der größten Atomanlage der Welt hat er nicht. Der riesige Bauplatz über seinem Dorf wird zwar heute schon mit großen Schildern der AKW-Betreiber ausgewiesen und von Einheiten der Elitepolizei bewacht. Doch die Bauarbeiten haben noch nicht begonnen.

Neben Sayekar in der Küche sitzt seine 38-jährige Schwägerin Chandbi Sattar im langen braungemusterten Sari und hört zu. Wie schon beim Morgengebet hält sie den Koran in den Händen. „Wir verstehen doch nichts von Politik“, entgegnet sie ihrem Schwager. „Ja, wir sind wütend. Mir ist oft, als würde Tabrez noch unter uns sitzen.Aber wem können wir unsere Wut zeigen? Auf uns hört doch keiner“, sagt Sattar.

Sayekar wirkt überrascht. Man kann sich gut vorstellen, dass politische Gespräche in seinem Haus, noch dazu zwischen Frau und Mann, eher selten vorkommen. Aber die Umstände sind einmalig. Offen wendet sich Sayekar seiner Schwägerin zu: „Wir sind uns doch heute im Dorf einiger als je zuvor. Wir brauchen die Fabrik nicht. Und deshalb werden wir sie verhindern“, sagt er. Das klingt, als sei er auf dem Weg, den Tod des Sohns zu bewältigen. Inzwischen reichen die Gedanken des Fischers sogar bis Fukushima. Für Sayekar hat sich in den letzten drei Monaten mehr geändert als in den letzten dreißig Jahren.